
[Pegasus Projekt: Zeta Pegasi – Homam]
Nagelfluh und Tobel sind Begriffe, auf die man recht häufig stösst, wenn man als Wanderer in Mostindien unterwegs ist. Grund genug, sie zu erklären und sich so ihrer zu vergewissern. Auch heute habe ich wieder einen Tag mit ihnen verbracht. Auf meinem Weg zur Hochwacht, um im Projekt Pegasus den Stern Homam aufzusuchen, nahm ich den Weg durch ein Tobel, das vom Dorfrand Sirnachs auf den bewaldeten Hügel im Süden führt. Sein Name ist „Bachtobel“, eine unspektakuläre kleine Schlucht mit einem schönen Wasserfall, in der sich auch der Abenteuerspielplatz des lokalen Kindergartens befindet. Tobel sind in Mostindien nichts Aussergewöhnliches, die Hügellandschaft ist durchzogen von den tiefen Wasserschluchten, wo die Bäche den hier weitverbreiteten Nagelfluh blosslegen. Nagelfluh und Tobel sind das Paar, das hier eng miteinander verbunden auftritt.
Begriffsbestimmungen: Das Wort Nagelfluh ist ein in der Schweiz gebräuchlicher Ausdruck für ein Gesteinskonklomerat im Molassebecken des Alpenvorlands. Letzteres zieht sich nördlich der Alpen durch Österreich, Deutschland, die Schweiz und Frankreich. Im Zusammenhang mit der durch eine Kontinentalverschiebung verursachten Gebirgsbildung wurde im Tertiär Erosionsmaterial durch grosse Flüsse in das Molassebecken verfrachtet und dort zu Hügeln und sanften Landschaften aufgeschüttet. Aus den von den Flüssen mitgeführten Schottern und Sanden entstanden Konglomerate, wobei runder Kies und Geröll mit feinstofflichen Bindemitteln „verbacken“ wurden. Das Wort Nagelfluh ist ein zusammengesetztes Substantiv, das die althochdeutschen Wörter „Nagel“ (Nagel, Nagelkopf) und „Fluh“ (hartes Gestein) enthält. Die wie Nägelköpfe aus dem Gesteinsbrocken herausstehenden, eckigen oder runden Geröllbestandteile sind (mittels Kalksteinsediment) zu hartem Gestein verbunden. Das sieht oft wie Waschbeton aus. Nagelfluh kann so ganze Gebirgslandschaften bilden, unter anderem auch in den St. Galler Voralpen und insbesondere im Unteren Toggenburg mit dem Hörnli. Damit sind wir wieder in Mostindien gelandet.
Bleibt noch, das Wort Tobel zu erklären: Es kommt sowohl im bairischen als auch alemannischen Sprachraum vor und ist ein Lehnwort aus der romanischen Sprachfamilie (Tuba, Röhre). Tobel sind nach der letzten Eiszeit entstanden und bilden tiefe V-förmige Einschnitte, die oft das darunterliegende Nagelfluhgestein blosslegen. Wasserfälle darin sind die Regel. Vor einigen Tagen haben wir ja ein anderes Tobel, das sgn. Teufelsofentobel besucht und auf diesem Blog darüber geschrieben.
Nachdem wir solchermasssen Leserin und Leser über zwei Begriffe der Geologie ud Landschaftsmorphologie belehrt hätten, bleibt nur noch auf die Schönheit und das Geheimnis der Landschaft selbst hinzuweisen, die diese durch den Gegensatz von sanften Hügeln und tief eingeschnittenen Schluchten mit ihren grossen und kleinen Wasserfällen erfährt. Diese meine Leidenschaft teile ich mit anderen. Michel und Ueli Brunner haben vor 5 Jahren ein Buch vorgelegt, das Ergebnis ihrer jahrelangen Beschäftigung mit den unzähligen Tobeln in der Schweiz ist: Wasserwunder. 22 verwunschene Tobelwanderungen im Kanton Zürich. (2016). Wer mag, kann sich hier in einer Preview einen kleinen Vorgeschmack auf die Schönheit und den Geschmack der Tobel gönnen. Am Besten erscheint es mir jedoch, sich auf die Reise in die vielen Tobel zu begeben, die Mostindien durchziehen.
Tobel muss man schützen, meine ich, und sie dem Zugriff der Modernität und ihrer rastlosen Menschenmassen entziehen. Man dürfte nicht über sie schreiben, von ihnen erzählen, sodass sie vom Mainstream der sgn. Outdoorbegeisterten vergessen werden. Wie kleine Juwelen sollen sie nur einem selbst gehören und einigen eingeweihten Seelenverwandten. Doch das ist nur ein frommer Wunsch, der sich gegen ein eigenartiges Demokratieverständnis der Spassgesellchaft richtet. Dazu ein Beispiel: Erst in jüngster Zeit entwickelte sich am Beispiel des Bachtobels ein wilder Streit auf Facebook. Voller Entrüstung stellte ein Mountainbiker ein Schild der Gemeindeverwaltung Sirnach ins Netz, auf dem diese auf die Sperre des steilen und fragilen Tobelweges für Biker hingewiesen hatte, um den Wegboden zu schützen. Er erregte sich heftig darüber und brachte seine Empörung zum Ausdruck. Alles werde mittlerweile verboten, wo bleibe die Freiheit des Individuums! Er habe dieselben Rechte wie Wanderer! Daraus entfaltete sich ein Shitstorm von Pro und Kontra, der typisch für die Kommunikation in Sozialen Medien ist. Ich zog mich sehr bald aus der Auseinandersetzung zurück. Ich hatte mit Verwunderung zur Kenntnis genommen hatte, mit welcher Wehleidigkeit das Recht des Einzelnen, sich alles zu nehmen, in Szene gesetzt wurde. Das Recht der Natur auf Unversehrtheit hingegen ist schon längst desavouiert.
Hingegen: Die Welt des Aberglaubens und der geheimniosvollen Ereignisse hat verstanden, worum es geht. Man ist nur Gast in einem Tobel und wird nicht gerne gesehen. Es ist der Platz für die unheimlichen Gestalten des Nachtvolks, die neben der Einschicht auch verlassene Alphäuser, einsame Hütten und ihre geliebte Tobel aufsuchen. Halten wir einen Respektabstand. Eine Erzählung aus Vorarlberg berichtet:
In Montavon war einmal ein Bauer noch spät in einer mondhellen Nacht auf den Beinen. Der Weg führte ihn zum Murnertobel, dort setzte er sich auf einer Steinplatte eine Weile zur Rast, zog eine Maultrommel aus der Westentasche und fieng zum Zeitvertreib gar zierlich zu trommeln an. Wie der Bauer auf der Steinplatte in die mondhelle Nacht hinaustrommelte, kam auf einmal das Nachtvolk in langem schwarzem Zuge durch das Tobel herunter und einer aus dem Häufen schritt auf den einsamen Maultrommler zu und sagte zu ihm: „Wenn du willst, so will ich dich noch zierlicher und lustiger trommeln lehren, so zwar, dass die Tannpätschen an den Tannen rings umher zu tanzen anfangen. „„Ja freilich will ich““, sagte der Bauer. Aber bevor der Unterricht begann, kam ans dem Häufen ein Weibsbild herbei, zog den schwarzen Musiklehrer beim Arme : „Komm‘ mit dem Bauer ist nichts anzufangen, der hat heute das Weihwasser genommen.“
Franz Josef Vonbun: Deutsche Mythologie, 1862.
Recherche:
- Franz Josef Vonbun: Deutsche Mythologie. Gesammelt in Churrhaetien. 1862
- Toni P. Labhart: Geologie der Schweiz. 2009