
Der Weg führt diesmal nach Gähwil, einer Gemeinde am Fusse eines langgestreckten Nagelfluhfelsens, auf dem seinerzeit die Burg Alt-Toggenburg stand. Diese ist längst verschwunden, ein Opfer der Jahrhunderte, die mittlerweile durch die Region gezogen sind. Aber die Geschichte erzählt, dass ihr Steinmaterial im 18. Jahrhundert zum Bau der Pfarrkirche von Gähwil verwendet wurde. Wieder, so glaubt man den Quellen, war es eine Geschichte von Widerborstigkeit gegenüber der zugeteilten Pfarre (diesmal: Kirchberg). Die in der Reformationszeit geplünderte und in weiterer Foge verwahrloste Kapelle aus dem 14. Jahrhundert, die sich in Gähwil befand, sollte durch eine Kirche ersetzt werden: so war das Begehr der Gähwiler. Dies ist ein drängender und frommer Wunsch, den wir auch aus Wallenwil kennen. Ich werde den Verdacht nicht los, dass es sich dabei um einen Topos handelt. Jedenfalls sprachen laut Chronik einige lokale Bauern 1747 beim Pfarrer von Kirchberg vor, um ihm anzukündigen, dass sie beim beabsichtigten Bau der Kirchberger Kirche keinen Frondienst leisten würden. Sie hätten wohl Anderes zu tun, im Übrigen woh auch grösstes Interesse an einem eigenen Gotteshaus. Der Pfarrer antwortete verstimmt und knapp: Kirchberg könne bauen ohne Gähwil, die Gähwiller könnten das Gleiche tun, wenn sie es nur vermögen. Damit war es zwar noch nicht getan, aber nach langem Hin und Her, das wir hier des Lesbarkeit wegen nicht weiter ausbreiten wollen, obsiegte die Gähwiler Entschiedenheit. Das eigensinnige Kirchenvolk hatte sich durchgesetzt. Baumaterial war nötig, der Einfachheit halber bediente man sich in der Umgebung. Bausteine holte man von der seit dem 13. Jahrhundert in Ruinen liegenden Burg Alt-Toggenburg, Kalkstein aus dem Lüttenried und Holz aus den umliegenden Wäldern. Mit dem Bau wurde 1747 begonnen, geweiht wurde die neue Kirche 1755. Die kirchenrechtliche Trennung von Pfarre Kichberg folgte 11 Jahre später.
Trotz des Abbaus der Burgruine blieb der Name dieser Stammburg der Toggenburger weiterhin von Bedeutung: die Landschaft zwischen den Flüssen Thur und Neckar war zum Tockenburg geworden. Gähwil selbst jedoch wandte sich nach dem Abtrag der Burgruine immer mehr der Wallfahrt zu. Die Alt-Toggenburg wurde durch den Namen Iddaburg ersetzt und so sollte sie bis heute bekannt bleiben. Dies wiederum ist eine äusserst interessante Geschichte, die ich aber an anderer Stelle erzählen möchte.
Mich hat diesmal nicht die Heilige Idda, sondern die Suche nach einem Sägewerk nach Gähwil gebracht. Die Aufgabe bestand darin, den Hörachbach rund um jene Stelle zu kartieren, wo er einst eine mechanische Sägerei betrieben hatte. Wasserentnahme, Wasserkraftzentrale und Wasserrückgabe an einem schmalen Bach, eingepfercht zwischen zwei Betriebsgeländen. Die auf dem Gelände befindliche Sägerei Innoholz lebt allerdings nicht mehr direkt von der Wasserkraft, sondern wird von Strom betrieben. Die Schilder, welche die hohen Bretterstapel begleiten, wqrnen vor dem Betreten des Betriebsgeländes. Niemand wird für allfällige Unfälle haften! Erfreulicherweise ist es Wochenende, ich kann mich unbeachtet (und unbeschadet) bewegen, um meine Dokumentation fertigzustellen. Keines der Holzbretter fällt zu Boden oder mir gar auf den Kopf.
Längst gibt es kein Aufhebens mehr um den schmalen Hörachbach, der auf dem Gebiet der einstigen Sägereizentrale unterirdisch verläuft und einst mechanisch die Säge angetrieben hatte. Er hat seine Funktion im Sinne des Gewerbes ohne viel Aufhebens aufgegeben. Ungenutzt und unbemerkt sprudelt er still unter dem Asphalt vor sich hin und treibt nichts mehr an, nur sich selbst. Nirgendwo finde ich Zeugnis von dem alten Sägewerk, weder in der Wirklichkeit noch in den Büchern. Es ist, als hätte es das Werk nie gegeben. Man hat sich klammheimlich von ihm verabschiedet. Denn auch die Zentrale, in der er die Sägeblätter antrieb, wurde offenbar vor Kurzem abgerissen. Das alte Recht, das Wasser dieses Baches zu nutzen, hat sich als obsolet erwiesen. Keiner will es mehr, keiner braucht es mehr: es kann an den Staat und den Kanton zurückfallen. Renaturierung täte dem Hörachbach jedoch gut statt zwischen Sägerei, Rohrfabrik und Autoreperaturwerkstätte eingepfercht dahinzufliessen. Ein paar kleine Fische wären nett darin zu sehen.
Weil ich noch ein wenig Bewegung brauche, beschliesse ich mich auf den Weg über die Hügel zu meiner Heimat zu machen. Und wie so oft ist das Gehen über Stock und Stein von einer Art Meditation geprägt, bei der man oft nicht sagen kann, worüber man gerade „nachgedacht“ hat. Unterbrochen wird dieser merkwürdige Tagtraum von einzelnen, kaum spektakulären Erlebnissen: ein merkwürdig gewachsener und „angezuckerter“ Ast, eine verfallene Waldhütte, eine unermüdliche Joggerin mit Hund, der man auf seinem Weg mehrmals mit all der gebotenen Freundlichkeit begegnet.
Hier stösst man vielleich auch auf Hinweisschilder eines umweltbewussten und jungen Revierörsters, der auf das Gefüge des Waldes aufmerksam macht. Er erklärt uns den Wald auf selbstgebastelten Tafeln. Ich lese von der Biodiversität im Kirchwald und vom Wald der Zukunft in einer heissen und von Borkenkäfern befallenen Bäumen. Um Auskunft über die Informationsschilder hinaus zu geben, hat der rührige Mann sogar seine Koordinaten hinterlassen. So viel Engagement für unseren Lebensraum stimmt für kurze Zeit optimistisch, doch wird plötzlich auch wieder klar, wie gefärdet unsere Welt doch ist.

Wenig freundlichen Waldarbeitern begegnet man später auf einem Forstweg. Sie stehen um ein Feuer herum, das sie während ihrer Jause wärmt. Es sind wohl Vater und Sohn, die wortkarg ihre Arbeit zu verrichten haben. Wütend kommt ein kleiner Hund auf mich zugelaufen, nur mühevoll von seinen Alphamenschen vom Biss in meine Wade abgehalten. Sie haben mehrere Bäume geschlagen, die quer zu einem hohen undurchdringlichen Wall ineinander gefallen sind und den Weg komplett versperren. Kaum einen Gruss wechseln wir, ich klettere übel gelaunt am abschüssigen Hang über die Haufen aus Astgewirr, ein mühsames Unterfangen. Belustigt beobachtet mich die beiden Verursacher, wie ich mich durch das Dickicht schlage. Ein alter Mann ist das, ein wenig ungeschickt und frei von jugendlicher Agilität. Vater und Sohn hingegen sind die Herren des Waldes und der darin befindlichen Wege. Wer sich trotz Wegfreiheit durch ihre Gebiet wagt, wird nur mit Mühe gelitten und ist in höchstem Masse ungewollt. Platzhirschen sind sie, ja!
Viel später komme ich in Littenheid an, einer kleinen Gemeinde, die sich vor allem durch zwei Besonderheiten auszeichnet: der Moorlandschaft Ägelsee und der Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Clienia. Ich erinnere mich an einen gemeinsamen Patientenbesuch vor Jahren, der von grosser Unsicherheit geprägt war. Für immer wird seitdem der Ort mit meiner Schweizer Geschichte verknüpft sein. Trotzdem: Ich liebe ich es, meine Zeit an solchen Orten zu verbringen. Sie sind aus der Zeit geworfen worden und leben fern von allen Zwängen des wütend regierenden Mainstreams. Hier steht die Zeit still, zumindest verläuft sie aber unaufgeregter. Ich sitze im Wartehäuschen des Busses und warte fast eine Stunde lang auf sein Eintreffen. Gerne hätte ich jetzt das Buch über die Geschichte Littenheids von Marianne Schwyn in Händen, dasmir zu teuer ist, um es kaufen. Ich nehme mir vor, forschend an diesen Ort zurückzukehren.
So sitze in der Sonne und beobachte die Menschen: nicht als Voyeur, sondern als einer von ihnen. Ausgespien aus dem Zwang der alltäglichen Verrichtungen geniesse ich als Pensionist die Wärme und Ruhe des Ortes. Ein Tag geht langsam zu Ende. Ich kann nicht anders als an „Wanderers Nachtlied“ denken, literarischer Kitsch hin oder her:
Über allen Gipfeln
Wolfgang von Goethe, 1780
ist Ruh,
In allen Wipfeln
spürest du
kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur,
bald ruhest auch du.
Recherche:
- Schwyn, Marianne: Littenheid – von der Geschichte gestreift. 2018
- Seelsorgeeinheit Bazenheid, Kirchberg, Gähwil. Aufgesucht am 21. März 2021
- Toggenburger Chronik: Urkundliche Geschichte sämtlicher katholischer und evangelischer Kirchgemeinden der Landschaft Toggenburg. 1887