Der Gonzenbach an seinem Unterlauf

In einer Landeskunde aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunders lesen wir über die an Thur und Neckar gelegene Ortschaft:

Lütisburg. Der Ort dieses Namens, der jetzt in den St. Gallensch. Bez. Alt-Toggenburg gehört, liegt auf einer kleinen Anhöhe, zur Rechten der Thur, und es zählt die dazugehörende paritätische Gemeinde 570 katholische und 460 evangelische Einwohner. Hier ist ein bedeutender Durchpass von St. Gallen und Wyl nach dem obern Toggenburg, auch ein Kupferhammer in der Nähe am Gonzenbach, welcher Bach hier im sogenannten Guggenloch einen schönen Wasserfall bildet, worauf er sich in die Thur wirft.

Lutz, Markus: Vollständige Beschreibung des Schweitzerlandes. 1835

Die beiden Orte Chupferhammer und Guggenloch befinden sich beide am Hammertobel, in dem der Gonzenbach sich tief in die Molasse eingegraben hat. Dort ist der Hammertobel auch zugänglich: die über weite Strecken schwere Zuganglichkeit des Gewässers trägt zu seiner Unbekanntheit und damit zum Schutz vor dem Menschen bei. Beide Orte, die am Mittellauf und am Unterlauf liegen, sind eng mit dem Wesen des Tobels verbunden, mit seinem Wasser, seinem Gefälle, seinen ins Wasser gestürzten Bäumen, seiner Fauna und Flora und dem geheimnisvollen Charakter des tiefen Talbodens. Ein Factsheet des WWF bezeichnet den Bach als „Gewässerperle“ und „Grand Canyon der Ostschweiz“, mit natürlicher Gewasserdynamik, durch die immer wieder neue Lebensräume geschaffen werden.

Der aufgelassene Chupferhammer mit dem Gonzenbach

Meine erste Station ist die aufgelassene Wasserkraftanlage Chupferhammer. Chupferhammer ist eine veraltete Schreibweise. Sie bezeichnet die Werkstätte eines Kupferhammerschmiedes, der an mit Wasserkraft Kupfer und Messing bearbeitet. Statt Kupferhammer könnte man auch Kupferschmitten oder Hammerschmitten sagen. Wir finden den Kupferhammer schon am Beginn des 19. Jahrhunderts erwähnt, ein früheres Zeugnis ist wahrscheinlich, wir haben allerdings im Moment keines gefunden. In der Anlage wurde gereinigtes Kupfer („Kupferplatten“) zu Blechen geschlagen. Nach dem Vorbild der Eisenhämmer schlugen dabei schwere, durch das Mühlrad in Bewegung gesetzte Hämmer die Messingplatten zu Blechen.

Doch jetzt ist die Anlage schon lange ausser Betrieb. Wasserrohre und Wehranlagen rosten vor sich hin, sind von Dickicht überwuchert, der Wasserzulauf zur Anlage versiegt. Das gesamte Areal bezeichnet sich als streng privat: eine etwas heruntergekommene Halle (die ehemalige Wasserkraftzentrale), ein schmuckes Wochenendwohnhaus mit der Tafel „Kupferhammer“ sowie das gesamte Ufer des Gonzenbachs von seinem Steilabsturz bis weit unterhalb des ursprünglichen Rückflusses vom Kraftwerk. Angesichts der drohenden Beschilderung wirkt der Wanderweg fast schon schüchtern und verschämt. Dürfen wir nicht, was andere sich dort vorbehalten? Am Ufer des Gonzenbaches lagern, die Jause zu sich nehmen, auf das sprudelnde Wasser kucken. Ist das Ufer des Baches tatsächlich privat? Und wäre es nicht auch für die Öffentlichkeit schützenswert?

Im Guggenloch. Weiter bachabwärts, als schon das imposante Viadukt der Toggenburger Bahn über das Guggenloch sichtbar wird, höre ich ein kräftiges, aber durchaus melodisches Singen. Mein Blick fällt in die höhlenartige Auswaschung des Guggenlochs hinab, von wo das Echo zurückklingt. Weit unten beobachte ich einen Mann, der sich zu dem kleinen Wasserfall begibt und sich dort schnell und routiniert seiner Kleidung entledigt. Nackt watet er mit freudig erhobenen Armen durch das Wasser unterhalb des riesigen Nagelfluhfelsens, um sich im Gerinne des Wasserfalls zu duschen. Es hat heute knapp über Null Grad, noch liegt allerorten Schnee. Der Frühling soll erst kommende Woche kommen. Der Anblick ist ungewöhnlich und macht neugierig auf diesen Ort.

Das Guggenloch bei Lütisburg

So betrete ich nach kurzer Zeit den Eingang zum Guggenloch, eine kleinen, verschwiegene und auf den ersten Blick bemerkenswerten Siedlung, die den Namen der dahinterliegenden Höhle führt. Guggenloch, so sagt uns das Schweizer Ortsnamenverzeichnis, bedeute so etwas wie: in einen sehenswerten Ort hineinschauen (Gugg ins Loch). Welch passender Name!

Die BewohnerInnen des Ortes begrüssen mich mit folgendem Schild:

Sie befinden sich auf dem Gelände des historischen Ortes Guggenloch, auf dem schon vor über 500 Jahren eine Mühle gebaut wurde. Seit 1984 stehen hier die Räder still und die Gebäude werden heute privat genutzt zum Wohnen und zum Arbeiten.
Für einen achtsamen Kurzbesuch sind sie willkommen.
Für einen längeren Aufenthalt zum Baden oder Picknicken etc. eignet sich die Thur und das angrenzende Ufer hinter der Holzbrücke.
Die Bewohnerinnen und Bewohner.

Eine höfliche und bestimmte Einladung, nicht lange zu bleiben. Draussen an der Thur, oberhalb der Letzibrücke und neben der Toggenburger Schnellstrasse befinden sich die beliebten Flussbadeplätze der Bewohner der Region. Ich gehe vorsichtig die kleine Strasse in den Tobel hinein. Zu meiner rechten ein kleines, aber adrettes Haus, welches mich mit einem Bibelspruch begrüsst, der besagt, dass in jenem Haus DER Herr zu Gast sei. Zu meiner Linken ein Gehege mit Hühnern, vor mir ein kleines Mädchen, das das Gras zwischen den Pflastersteinen ausreisst, um es an die Tiere zu verfüttern. Dann ein bunter, langgestreckter Waggon, der als Wohnwagen genutzt wird. Dahinter verschiedene Häuser, dazwischen Feuerstellen, Windspiele, Skulpturen und eine Jurte. Pflanzen, ein Atelier, ein Veranstaltungsraum. Eine Mühle muss hier wohl einmal gewesen sein und eine Dinkelbäckerei. Der kleine Ort vor dem finsteren Loch und unter der hohen Brücke hat seine eigenen Stromversorgung. Ein buntes Volk wohnt hier, weit entfernt von der Norm des Schweizer Durchschnittsmenschen. Kunst, Kultur, Esoterik, Naturreligion und alternatives Leben scheinen hier in dieser begrenzten Gegenwelt verankert zu sein: das alles erinnert mich an die längst vergangenen Zeiten meiner Jugend. Ich will hier nicht stören, hätte aber so viele neugierige Fragen. Ich grüsse still, als mir eine bunt gekleidete Frau über den Weg läuft, sehe mir dann in aller Ruhe die Höhle an, die der Bach ausgespült hat und vermisse den breiten Wasserfall über dem Guggenloch, der auf vielen Bildern zu sehen ist.. Das unmittelbar oberhalb der Höhle liegende Kraftwerk hält das Wasser zurück, sodass nur ein schmaler Wasserfaden über den Felsen stürzt. Dann verlasse ich den Ort und nehme mir vor, bei Gelegenheit wiederzukommen.

Die Ortschaft Guggenloch mit der Eisenbahnbrücke

Beim Stübern im Internet erhellt sich mir ein wenig die Geschichte des Ortes. 1513 wurde an dieser Stelle erstmals eine Mühle erwähnt, die durch das natürliche Gefälle des Wasserfalls angetrieben wurde. Daran angeschlossen entstand schon bald eine kleine Siedlung, denn am Ausgang des Guggenlochs führte ja die Strasse von Wil und in den Toggenburg vorbei. Im Laufe der Jahrhunderte siedelten sich ein Fuhrbetrieb, eine Bäckerei, eine Mosti, eine Dörrerei und eine Sägerei an, alle eng an die steilen Wände des Tobels gepresst. Ab 1870 begann man mit dem Bau der technisch gewagten Eisenbahnbrücke der Toggenburgerbahn, die ab nun den Himmel über den BewohnerInnen des Guggenlochs begrenzte. Das geschäftige Leben der Bewohner war aber 1972 mit einem Mal zu Ende, verursacht durch einen Erdrutsch, der Teile der Siedlung verschüttete. Die Bäckerei, die bis heute den Namen Feinbäckerei Guggenloch führt, wanderte in einen anderen Ort ab. Für einige Jahre blieb das Guggenloch unbewohnt, schliesslich wurde es von der Genossenschaft Pro Guggenloch erworben. Der Ort wurde wieder reaktiviert. Die Elektrizität beziehen die Einwohner durch das von der Genossenschaft 1996 erbaute Kleinkraftwerk, das knapp oberhalb des Guggenlochs den Gonzenbach staut. Als Tüpfelchen auf dem I des Projekts Guggenbachs wird es erachtet und als Beispiel dezentraler Energieversorgung.

Oft werden dort auch Feste gefeiert, zu dem auch Neugierige von ausserhalb eingeladen werden: nicht etwa nur zum 500 jährigen Jubiläum der Mühle oder Konzerte, die sich mythologischen Stoffen widmen. Erst 2019 hat die Theatermacherin Andrea Schultheiss dort ein Theaterstück mit den BewohnerInnen des Guggenlochs und vielen Freiwilligen aus dem Toggenburg aufgeführt. „Wild“ hiess die Theateraufführung, die eine Art Wiederbegegnung des Menschen mit der wilden Natur inszenierte. Das passt auch hervorragend zum Gonzenbach und seinem unbändigem Wasser, dem sich ständig wandelnden Flussbett und dem archaischen Wechsel zwischen den Gezeiten.

Recherche:

  • Saiten vom 4. Juni 2019: Ab in die wilde Natur.
  • Wiler Nachrichten vom 8. August 2013: Wir wussten, wir gehören dorthin. 500 Jahre Guggenloch. Ein Ort lädt zum Stauenen ein.
  • Factsheet WWF: Gewässerperle Gonzenbach (pdf – download)