Sie blühen wieder und wahrlich nicht mehr überall: die Schlüsselblumen. Sie sind eine Erinnerung an die Tage meiner Kindheit, als wir wie selbstverständlich ganze Sträusse aus den Wiesen zupften, um sie dann nach Hause zu bringen. Dort wurden sie in kleinen Vasen in der Wohnung aufgestellt, rund um Ostern. Sie rochen wunderbar. Sie waren eine Devotionalie, die uns an die Einmaligkeit der Natur glauben liess. Kitsch hin oder her.

Heute ist das vorbei. Mittlerweile sind die Schlüsselblumen selten geworden und dementsprechend kostbar. Sie wurden zu geschützten Pflanzen, nur wissen das Wenige meiner Generation, so „unkrautig“ wucherten die Blumen einst am Waldesrand. Wie so viele Pflanzen- und Tierbestände sind sie Opfer extensiver Landwirtschaft geworden, aber auch ausgedehnter Wildsammlungen. Seit sie in vielen Ländern Europas nicht mehr gesammelt werden dürfen, werden sie aus Wildsammlungen der Türkei importiert: so hilft man sich in der globalisierten Welt um seinen (ganz persönlichen?) Healthy Lifestyle zu befriedigen. Der Raubbau an den Beständen ist tatsächlich der Heilkraft der Pflanze geschuldet: sie hilft bei Husten und Atemwegsinfektionen. Wurzel, Blüten und Blätter können mit gutem Erfolg verwendet werden. Der Raubbau bewirkte, dass die Schlüsselblume heute zu den am meisten bedrohten Arzneipflanzen gehört. Einige deprimierende Beispiele aus einer WWF Artendokumentation gefällig? Weißrussland: vom Aussterben bedroht, Schweden: gefährdet, Luxemburg, Holland: gefährdet, Moldawien: selten, Deutschland, in sechs Bundesländern: potenziell gefährdet bis stark gefährdet. Auch In Mostindien gehört die Schlüsselblume zu den geschützten Pflanzenarten. Dass ich davon eine ganze Wiese gefunden habe, auf dem die wundersamen gelben Blüten ihre Köpfe im Wind drehten, tut dem Schutzgedanken keinen Abbruch. Dem Grundeigentümer sei Dank! Ich erfreue mich am Schauen: besser als die toten Pflanzen am Tisch vor sich hinwelken zu sehen oder sie mit brühend heissem Wasser übergiessen.

Die Schlüsselblumen sind schön, sie sind selten und sie sind vom Aussterben bedroht. Ein bedrohliches Szenario, den immerhin sind sie der Schlüssel zum Himmel und werden sehr oft genauso bezeichnet: als Himmelschlüsseln. Laut germanischer Mythologie soll die Schlüsselbrume der Schlüssel zu den Gefielden der Fruchtbarkeitsgöttin Freya gewesen sein. Auch deshalb lieben, nach Meinung esoterisch Inspirierter, die Feen und Elfen sie so sehr. Doch dann kam die Christianisierung Europas. Man ersetzte Freya durch Maria und übertrug die „Macht“ der Blume auch auf andere, heilige Gestalten. So steigen Engel auf dem Regenbogen nieder, wo er die Erde berührt und lassen dort einen kleinen goldenen Schlüssel fallen: die Himmelschlüssel. Die Türöffner tragen geheime Kräfte in sich und führen zu versteckten Schätzen. Es ist schon magisch, etwas geschenkt zu bekommen, was vom Himmel gefallen ist, besonders in Zeiten der Pandemie.

Dann sind da noch die „Weissen Fräuleins“. Offenbar steckt immer noch die germanische Göttin hinter den Überlieferungen von den Frauen, die Feld und Flur bevölkern. In der Zeitschrift für Ethnologie aus dem Jahr 1890 finden wir eine Reihe dieser Sagen versammelt, in denen die Weisse Frau und die Schlüsselblume gemeinsam die Magie bewirken. Eine davon sei hier nacherzählt:

Einmal weidete ein Hirte seine Tiere auf der Schauenburgerwiese, dort, wo die Hörsel entspringt. Da fand er eine wunderbare Blume, so schön, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sogleich pflückte er sie und steckte sie begeistert an seinen Hut. Da tat sich mit einem Male der Berg auf und eine Weisse Frau erschien. Sie bewirtete den Hirten mit Speis und Trank, auch gab sie ihm Wein zu trinken. Gerne nahm der verwunderte Hirte die Gaben an. Als er gesättigt war, meinte die Weisse Frau, dass er auch von dem vielen Gold nehmen könne, das da lag. Das liess sich der Hirte nicht zweimal sagen und sogleich stopfte er seine Taschen mit den Goldstücken prallvoll. In seiner Trunkenheit hatte er dabei seinen Hut abgelegt und die Schlüsselblume fiel unbemerkt zu Boden. Als er zu guter Letzt mit vollen Taschen nach Hause heimkehren wollte, rief ihm die Weisse Frau noch zu: „Vergiss das Beste nicht!“ Der Hirte dachte aber nicht mehr an die Blume, sondern nahm noch mehr von dem Gold, so viel er auch nur tragen konnte. Kaum war er am Ausgang der Bergöffnung angelangt, donnerte krachend die Tür hinter ihm zu, und verletzte die Sehnen seiner Füsse so sehr, dass er von nun an zeitlebens nur mehr hinken konnte. Als er sich umwandte, waren das Fräulein und die Öffnung im Berge verschwunden. So sehr er auch später danach suchte, nie wieder sollte er die Türe wiederfinden. Da wurde ihm erst bewusst, was die weisse Frau mit ihrem Ratschlag gemeint hatte: dass er nämlich die Schlüsselblume nicht vergessen sollte! Die weisse Frau von der Schauenbergerwiese aber lässt sich nur alle sieben Jahre für kurze Zeit erblicken.

Wir merken gleich, die Gier treibt den Menschen und verleitet ihn dazu, das Himmelsgeschenk zu instrumentalisieren und die Freigibigkeit des Himmels auszunutzen. Die Träume vom unverhofften Reichtum spiegeln sich im Aberglauben wider, der so manche Geschichte von der Begegnung der Himmelsschlüssel mit den Menschen erzählt. Wer etwa das Glück hat, im Winter eine Schlüsselblume zu pflücken, den führt sie zum Schatz und öffnet alle Türen von alleine. An andrer Stelle wird von einem Schatzgräber berichtet, der zu Weihnachten eine Schlüsselblume gefunden hat und sie auf seinen Hut steckte. Er wurde automatisch zu einem Schatz hingezogen. Nachdem sich die Türen geöffnet hatten, fand er in diesem Raum Weitzen und Roggen vor. Die Körner verwandelten sich in seiner Hand zu Gold. Ein anderer Schatzgräber wiederum findet zur Fastnacht eine Schlüsselblume und auch er kann damit einen Schatz heben.

Das Begehren ist gross. Es ist das Haben, Haben, Haben wollen, das wir alle so gut kennen. Aber, es gibt auch bedeutend freundlichere , wenn auch am christlichen Glauben orientierte Deutungen der „Himmelsschlüssel“:

Dieselbe ist, wie schon ihr Name primula veris andeutet, als Frühlingsbote Symbol des Lenzes, und, weil himmelwärts schauend, das Sinnbild des frommen Glaubens. Sie heisst auch Marienschlüssel oder Himmelsschlüssel, weil sie, im Frühlinge zuerst aufblühend, gleichsaym das ganze Blumenreich des Frühlings aufschliesst; Himmelsschlüssel heisst Maria selbst in einem altdeutschen Marienliede, weil sie durch die Geburt des Heilandes der Menschheit das Thor zum Himmel öffnete.

Friedreich, Johannes B.: Die Symbolik und Mythologie der Natur, 1859

Wir sind also wieder an den Ausgangspunkt unserer Betrachtungen angelangt: an den Frühling und den Zauber der ersten Pflanzen, die zu blühen beginnen. An die Erinnerungen und die Streifzüge durch Mostindien. Dass die Himmelschlüssel dort noch zu finden ist und auch geschützt wird, ist Schatz genug.

Recherche:

  • WWF Artenlexikon: Schlüsselblume
  • Panzer Friedrich: Beitrag zur deutschen Mythologie, 1848