Hie fint Neithart den feiel. Hier findet Neidhart das Veilchen.

Ei, was blüht so heimlich am Sonnenstrahl?
Das sind die lieben Veilchen, die blüh’n im stillen Thal,
Blühen so heimlich im Moose versteckt,
Drum haben auch wir Kinder kein Veilchen entdeckt.

Und was steckt sein Köpfelein still empor?
Was lispelt aus dem Moose so leise, leis‘ hervor?
„Suchet, so findet ihr! suchet mich doch!“
Ei, warte, Veilchen, warte! Wir finden dich noch.

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben

Mein erstes Veilchen in diesem Jahr war ein sensationeller Fund: ich entdeckte ein weisses Exemplar. Knapp unterhalb der Schneegrenze stand es unerwartet und natürlich am Waldesrand. Aus dem wendischen Sagenschatz wissen wir: „Wer ein weisses Veilchen findet, dem steht grosses Glück bevor.“

Bleich und weiss erschien es mir, als ich den düsteren, kalten Winterwald hinter mich gelassen hatte. Was also versprach es mir? Was sollte ich mir angesichts des versprochenen Glücks denn herbeiwünschen? Ich blieb trotz plötzlich aufkeimender guter Laune skeptisch. „Selbst wenn ich mir was wünschen dürfte, käm ich in Verlegenheit„, fiel mir dazu ein, in Erinnerung an ein Lied, das die seit langem verstorbene Greta Keller so gelungen am Anfang ihrer Karriere interpretiert hatte. Lassen wir es also lieber beim Wünschen und Sehnen, das liegt den Menschen aus Wien wohl mehr als die konkrete Tat. Denn krude Phantasien unter allen Umständen in die Tat umsetzen zu wollen, endet oft im Niemandsland der Ernüchterung. Ja Ernüchterung, darum geht es wohl in den folgenden Zeilen.

Aus Wien stammt die schöne Geschichte, die in vielen Variationen immer und immer wieder erzählt worden ist:

Im 12. Jahrhundert soll es in Wien Sitte gewesen sein, nach dem ersten Veilchen zu suchen. Der glückliche Finder benachrichtigte sofort Herzog Leopold VI., der mit seinem Hofstaat hinauszog, um den kleinen Frühlingsboten zu begrüssen und ein (das sittsamste!) Mädchen auszuwählen, dass dieses Veilchen pflücken durfte.

Bandini-König, Ditte: Kleines Lexikon des Aberglaubens, 1998.

Man mag ja dem Obrigkeitscharakter eines Hofzeremoniells kritisch gegenüberstehen: einer gewissen Originalität entbehrt die Geschichte jedoch nicht, denkt man an die Hybris gegenwärtiger Regierungen. Dass aber bei Machtritualen leicht etwas schief gehen kann, wissen wir spätestens seit dem Schwank von Neidhart mit dem Veilchen. Der mittelalterliche Dichter Neidhart von Reuental – er lebte in der ersten Hälfte des 13. Jahhunderts – nimmt dabei den Topos vom ersten Veilchen auf und verwandelt die Geschichte von einem unterwürfigen und liebedienerischen Hofzeremoniell in die bittere Geschichte eines arg missglückten Liebeswerbens. So soll sich die Geschichte zugetragen haben:

Der Ritter Neidhart findet eines Tages im Frühling beim Streifen durch die Felder ein Veilchen, den ersten Boten des Frühlings. Schnell stülpt den Hut über den Frühlingsboten, um ihn vor den Augen anderer zu verbergen. Sogleich eilt er zur nahegelegenen Burg, um stolz über seinen ersten Fund zu berichten. Die von ihm so (m)inniglich verehrte Herzogin von Österreich eilt herbei, um das Veilchen in Empfang zu nehmen. Doch es sind die Bauern, die dem glücklichen Neidhart einen Strich durch die Rechnung machen. Sie haben ihn nämlich bei seiner Entdeckung beobachtet und in böser Absicht das Veilchen gegen Fäkalien ausgetauscht. Ein unverzeihliches Vergehen! Als die Herzogin den Hut hebt, ist sie über den widerlichen Fund empört und rast vor Zorn. Neidhart versinkt vor Scham in den Boden: Ich wollt das ich wer todt.

Neidhart schwört Rache an den hinterlistigen Bauern. Sie haben inzwischen das Veilchen an einen Stock gebunden und tanzen feixend darum herum. Schadenfroh toben und spotten sie, zerren das Minnewerben des Ritters aber auch das adelige Hofzeremonell in den Schmutz. Der in seiner Ehre und in seinem Standesdenken verletzte Neidhart nimmt an ihnen grausame Rache: er lässt ihnen das linke Bein abhacken, auf das sie nie mehr zu tanzen vermögen. Der Bauerntölpel ist wieder in seine Schranken gewiesen worden, die Ehre des Ritters, nicht aber die Zuneigung der Herzogin wiederhergestellt. Aus der zarten Geschichte um das erste Veilchen ist ein grausiges Massaker geworden, aus der ritterlichen Tändelei grausames Unrecht. Den Bauern bleibt nichts anderes mehr, als das Veilchen, den Frühling und ihren Herrn zu verfluchen.

Aus dieser Geschichte lernen wir auch, wie vergänglich symbolische Wirkungen sein können. Denn das Veilchen (und seine Symbolkraft) wird nicht nur durch den groben Pöbel entweiht, sondern trägt auch das Seinige zur Entzauberung seiner selbst bei. Es verblüht, geht unter im erbarmungslosen Wechsel der Jahrezeiten und fällt dem Vergessen anheim. Ein Lied für Stimme und Klavier von Felix Mendelsohn-Bartholdy aus dem Jahr 1834 begreift das Veilchen in diesem Sinn. Das dem Kunstlied zugrundeliegende Libretto liest sich folgendermassen:

Als ich das erste Veilchen erblickt,
Wie war ich von Farben und Duft entzückt!
Die Botin des Lenzes drückt‘ ich voll Lust
An meine schwellende, hoffende Brust.

Der Lenz ist vorüber, das Veilchen ist todt;
Rings steh’n viel Blumen blau und roth,
Ich stehe inmitten, und sehe sie kaum,
Das Veilchen erscheint mir im Frühlingstraum.

Karl Egon Ebert

Romantik und Ernüchterung: sollte man diese Enttäuschung vermeiden? Doch diese Frage stellt sich eigentlich nicht mehr. Heute sucht man nicht mehr nach dem ersten Veilchen und man pflückt, die rechte Gesinnung vorausgesetzt, wildwachse Blumen auch nicht. Allerhöchstens fotografiert man sie und sendet das Bild und sein Liebeswerben per Smartphone: „Kuck, ich hab an dich gedacht!“ Das schützt zumindest vor dem unsensiblen Pöbel der Neidhartschen Geschichte. Das Veilchen allerdings bleibt letztendlich nur seelenloses, digitalisiertes Gut: ohne Geschmack, ohne Geruch aber mit viel Farbe und in allerbester, digitaler Schärfe. Das ist schade, denke ich und mache mein Foto. Es ist leider nicht so richtig scharf geworden.