
Bei meinem letzten Besuch in Lichtensteig, „meiner liebsten kleinen Stadt“ im Toggenburg, habe ich einige Zeit am Bahnhof verbringen müssen: das ist oft so, wenn ich auf der Strecke zwischen Wil und Wattwil pendle. Länger als 30 Minuten muss ich aber auf den Zug nie warten – und das stimmt mich durchaus sehr zufrieden. Ich liebe diese einfache Routine: einen Fahrplan dabei zu haben, wäre unter diesen Umständen nur unnötiger Ballast und peinliche Pedanterie. Die kleine Freiheit des Verreisens in der Verlässlichkeit des Halbstundentakts hat auch etwas durchaus Schweizerisches: sie ist berechenbar, ordentlich und absehbar. Diese kleinen Freiheiten sind durchaus attraktiv!
Ich mag es, bei meinen Fahrten, die Stationen der Reise auswendig zu lernen, wie etwa auch jetzt: Wil – Bazenheid – Lütisburg – Bütschwil – Dietfurt – Lichtensteig – Wattwil – Ebnat Kappel – Nesslau.Jede Station ist ein eigener Kosmos mit wenig bemerkten Gelegenheiten des Alltags. Hier verbringt man Teile seines Alltags mit Zusteigen und Aussteigen. Die Bahnhöfe liegen dabei immer etwas ausserhalb der Ortschaften: Räder werden von da an benutzt oder die Dienste von Familienangehörigen mit Auto. Nicht jedes Bahngebäude ist dabei von der Anmut und Romantik, wie jenes in Lichtensteig, das den Zuckerbäckerstil von 1910 behalten hat. Manche alten Gebäude sind vielmehr in Lagerhäuser umfunktioniert worden, entmündigt durch die einfallslose Orgie aus Glas und Beton, mit der man die Perrons „funktional“ auf die vermuteten Bedürfnisse der Berufspendler verschlimmbessert hat. Wer möchte in einer solchen Klimazone warten müssen? Kalt und nass im Winter, unwahrscheinlich heiss im Sommer, durchsichtig die Wände und ohne jeden Schutz; Gebäude, die nicht mehr zum Verweilen einladen, sondern zum Fliehen in den Zug. Ach du modernes Glück an Mobilität!
Die Reise vom Hauptort Wil in die Alpenwelt des Südens ist geprägt vom eindrucksvollen Wechsel der Landschaft, so etwas wie: Hinein in den Wilden Westen des Toggenburg! Mit jedem zurückgelegten Kilometer verändert sich die Landschaft. Ich teile dabei den Eindruck eines englischsprachigen Reisenden, der seine Reiseerinnerungen in einem Buch festgehalten hat:
From the outskirts of Wil we turned southeast more or less following the Thur river upstream. We went through Bütschwil, Lichtensteig and Wattwil. With each successive town the landscape grew wilder, more rugged, the snow deeper. We were entering the mountainuous region called the Toggenburg. The older houses, with their flared eaves began to have, what Annemarie called „that peculiar Toggenburg characteristic“.
Gilk, Paul: In Switzerland the Moon is always Male. 2000
Meine Kleinwasserkraftswerksbesuche liegen zu einem guten Teil entlang dieser Strecke, ich nutze die Bahn deshalb gerne und häufig. Meist sind meine Reisebegleiter Schülerinnen, Lehrlinge aber auch die Alten: Ausflügler und Freizeitreisende wie ich. Kein Auto für Leute wie mich. Gereizt denke ich, an meinem Hals-Nasen-Schutz zupfend: Es werden genug Geld, Natur und Nerven mit diesem Klimakiller verpulvert. Wie ärgerlich!
Ich geniesse aber meinen ungestörten Blick aus dem Fenster hinaus in die Landschaft. Mit leichtem Nervenflattern etwa zum Gonzenbach hinunter, wenn wir seine tiefe Schlucht auf der hohen Steinbrücke vor dem Ort Lütisberg überqueren. Unter mir der kleine magische Ort, über den ich vor kurzem nach einem eindrucksvollen Besuch geschrieben habe: das Guggenloch. Lütisburg
Apropos Technologieskepsis: über die Kinderzeiten der Eisenbahn habe ich eine hübsche Stelle in einem Internet-Archiv gefunden. Sie führt uns zurück an den Ausgangspunkt der Überlegungen: meinem Lieblingsort Lichtensteig, die gemütliche Bahn und meine Reisebewegungen auf „Grünen Spuren“. Und darüber hinaus begleitet sie uns zurück in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, in die Zeiten, als die Schweiz ihre Bekanntschaft mit der Bahn gemacht hat:
1836: Gerade versuchen gerade einige reiche Industrielle, Gewerbetreibende und Grossbauern, nebst ihren kantonalen Erfüllungsgehilfen, die sich gerne als Obrigkeiten sehen die Beschleunigung moderner Technologie der relevanten Öffentlichkeit schmackhaft zu machen: die Eisenbahn. Im Toggenburger Boten erscheint dazu folgender Artikel:
Die Eisenbahnen sind eine bedeutende, aber sehr kostbare Verbesserung der Landstrassen. Sie bestehen darin, dass zwei einander gleichlaufende Reihen von eisernen Schienen, die fest in den Boden gerammt sind, der Länge der Strasse nach gezogen werden. Auf dem Rücken dieser Schienen rollen die Räder, deren Einrichtung der Art ist, dass sie nicht davon abweichen können. Für das Hin- und Herfahren ist eine doppelte Eisenbahn nötig. Natürlich werden auf diese Weise schwerbelastete Wagen mit geringer Mühe fortgezogen, und der Transport dadurch wesentlich erleichtert. In neuerer Zeit wurde der Nutzen der Eisenbahnen noch sehr erhöht durch die Einführung der Dampfwagen. Es sind dieses Wagen, bei denen eine von Dampfgetriebene Maschine, welche die Räder in Bewegung setzt, den Dienst der Pferde vertritt. Der Dampfwagen fährt mit einer ausserordentlichen Schnelligkeit, und kann von dem Fuhrmanne nach Belieben gelenkt werden. Da die Maschine nicht auszuruhen braucht, sondern man durch mit auf die Reise genommenes Holz oder Steinkohlen das Feuer unter dem Dampfkessel beständig unterhalten kann, ohne dafür stille halten zu müssen, so kann mit einem solchen Wagen eine Reisegemacht werden, wozu man mit gewöhnlichen Wagen zwanzig bis dreissig Pferde zum Wechsel und Vorspann gebrauchte. Die Schnelligkeit, womit man fährt, ist ausserordentlich. Gewöhnlich macht ein Dampfwagen vierzig Fuss in der Sekunde, und kutschert demnach sechsmal so schnell als die gewöhnliche Schnellpost. Und bei dieser Schnelligkeit ist das Reisen so bequem, dass man im Wagen in einem Buche lesen kann, ohne die Stösse zu fühlen, und die Bewegung nur an dem Vorüberfliegen der Bäume und Häuser bemerkt. Da auf dem Dampfwagen selbst, wegen des Umfanges der Maschine, nur wenige Personen oder Waaren Platz haben, so hängt man ihm gewöhnlich einen ganzen Zug anderer beladener Wagen und Kutschen an. Gegen zweitausend Zentner werden dann auf der Eisenbahn so schnell fortgezogen, als ein Vogel fliegt. Es ist vorauszusehen, dass in wenigen Jahren jeder Fuhrmann des grösseren Vortheils willen, Dampfwagen gebraucht. Vielleicht sind sie für die Schweiz, trotz ihrer Berge und Hügel dennoch anwendbar. Es käme auf den Versuch an. Ein Vorschlag, Errichtung einer solchen Eisenbahn von Basel nach Zürich ist vor kurzem der Regierung vom Kanton Aargau eingegeben worden.»
Ein berührendes Stück Bahngeschichte aus Zeiten, wo man noch die Funktionsweise von Neuerungen erklärte und nicht auf die Intuition von wenigen Technikaffinen hoffte und sich die Gebrauchsanweiung für die „Idioten“ ersparte. Aber Vergleichbares zu Heute ist in diesem Text wohl auch festzustellen. Was damals mit den Hinweisen auf Schnelligkeit, Leistungsfähigkeit und kontinuierlichen Reisebewegungen angepriesen wurden: auch heute steht die Bahn wieder am Anfang und präsentiert sich (notgedrungen) voller Pioniergeist. Nachdem die Bahn über Jahrzehnte totgespart wurde und das Reisen in Europa kapitulierend dem Billigsdorfer Angebot namens Flugzeug überlassen wurde, scheint die Bahn wieder hoffnungsfroh an einem neuen Anfang zu stehen. Wenigstens wird dies derzeit in Österreich politisch und auch im Bereich des Infrastrukturreform verfolgt, sehr zu meiner Freude. Denn meine Fahrten zwischen Wien und Wil erledige ich gerne mit dem Nachtzug, luxuriöserweise mit dem Nightjet. Gut, dass die ÖBB nicht wie die Deutschen und Schweizer Schwestern die Nachtzüge aufgegeben hat, sondern ihre Flotte sogar ausbaut. Das macht mich stolz! Es beweist unbestreitbar, dass wahrer Fortschritt nicht linear gedacht werden kann, sondern historisch gesehen in unerwarteten Schleifen verläuft. Von den einstmals obligatorischen Wochenendflügen zwischen Zürich und Wien ist dank COVID-19 nichts mehr geblieben als die Erinnerung an ein Stück Pseudofreiheit. Geldvernichtung ade! Das angeberische Sektgeproste im Flugzeug war ohnehin nie Meines, auch das angstbesetzte Klatschen beim Landen fand ich mehr als peinlich. und irgendwann war es nicht mmehr hipp, das Flugzeug zu nehmen, sondern nur mehr beschwerlich.
Meine Gedanken schweifen, als ich auf die Uhr blicke und merke, dass noch 20 Minuten bis zum Eintreffen meiner Pendelbahn nach Wil verbleiben. Es ist ein eigenartiges Gefühl: nostalgisch zu sein und an eine Zukunft zu denken, die die Bahn als wichtiges Transportmittel kennenlernt. Nostalgie hat mich erfasst, als ich am alten Bahnhof von Lichtensteig vorbeikam, der nun zu einem schmucken Bistrot umfunktioniert wurde und in dem Frau wie Mann ihren Ausgehgelüsten nachgehen können; Neugier hat mich erfasst als ich gegenüber davon die sogenannte alte Bahnhalle entdecke, die nun zu einem (mietbaren) Theater- und Veranstaltungsraum und einem Airbnb umfunktioniert wurde. Wenn nur nicht COVID-19 uns nicht noch immer so fest im Griff hätte! Warum aber alter Bahnhof und Bahnhalle nicht mehr in ihrer alten Funktion existieren? Nun, 1910 hatte man die Bahnstation eineige 100 Meter verschieben müssen, nachdem die Bodensee-Toggenburg-Bahn fertiggestellt wurde und sich ab nun per Umsteigen mit der Toggenburger Bahn verband, die bereits 1870 fertiggestellt wurde. Stolz vermeldete Lichtensteig, dass es ab nun ein Eisenbahn – Verkehrsknotenpunkt sei! Ein neuer Bahnhof, ein sogenannter Keilbahnhof, entstand. Hier sitze ich nun im Schatten, trinke Hanftee mit Zitrone aus der mitgebrachten Thermosflasche und freue mich des geruhsamen Bahnlebens. Neben mir, der Wartesaal, der zu allerlei Kulturaffinem gemietet werden kann, auch wieder nur in pandemiebefreiten Zeiten.

Ich halluziniere, gebe vor, des Schreibeffekts wegen einer in einem Zug vorbeifahrenden Bahngesellschaft anzugehören. Wir sprechen Englisch und haben vor, von Nesslau aus, nach einem Bahnwechsel in Wattwil nach St. Gallen zu fahren: auf der anderen Bahnlinie, die Lichtensteig kreuzt: jener vom Bodensee nach St. Gallen. Ich notiere insgeheim, dem Autor des Buches folgend:
The train moved and twenty minutes later we hustled to change trains in Wattwil. At Lichtensteig, still wonderfully sunny, I cought a glimpse of the old city just before our clear path was swallowed by a tunnel. And I am learning to tell immediately upon entering a tunnel whether it is long or short by how much my eardrums hurt. They hurt a lot; the tunnel is long. When we came out at Brunnadern, the sky was cloudy. Here the train went north, high above a lovely valley, through which the Neckar river flowed, a very homey-feeling place for some inexplicable reason.
Gilk, Paul: In Switzerland the Moon is always Male. 2000
Recherche:
- Tagblatt vom 29.5.2009: Wo der Marschall den Banditen erschoss. (abgefragt am 10. April 2021)
- Saiten im März: Zum Beispiel Liechtensteig. (abgefragt am 10. April 2021)
- Wilnet: Öffentlicher Verkehr – Südostbahn (abgefragt am 10. April 2021)
Wieder sehr schön beschrieben! Ein Lesevergnügen und fast eine kleine Reise.
LikeGefällt 1 Person
Interessant zu lesen. Danke für den informativen Text!
LikeLike