
Es sind mittlerweile einige Wochen her, seit ich mit der Dokumentation von Kleinwasserkraftanlagen begonnen habe. Diese Aufgabe hält mich auf Trab, verordnet mir die notwendigen Frischluftkuren weit über das übliche Mass hinaus und lässt mich die wechselhaften Launen des Frühlings in Mostindien hautnah erfahren. Ein sogenanntes Ehrenamt führt mich regelmässig in die Natur und lässt mich in die Technikgeschichte des Alpemlandes eintauchen. Ehrenamt! Wir Pensionisten wollen ein wenig beschäftigt werden und uns wichtig machen: jetzt, nachdem kein Hahn mehr nach uns kräht und die Ehrungen des Berufslebens in rapidem Tempo verblassen. Vielleicht ist ja auch dieses Blog ein verzweifeltes Bemühen, sich mit als sinnvoll erachteten Beschäftigungen das Leben ein wenig aufzufetten.
Kein Sermon übers Pensionistendasein soll das werden. Die Konzentration ist leider meine Sache nicht, ich schweife ab im Thema. Eines führt zum Anderen, wie im echten Leben. Eigentlich wollte ich über meine Tätigkeit als sgn. Gewässerbeobachter berichten. Nun denn. Aus einer ellenslangen Online-Liste, die mir die Umweltschutzorganisation zur Verfügung gestellt hat, habe ich mir jene Orte ausgesucht, die ich mit dem ÖV gut erreichen kann. Dann wandere ich zu den Mühlen, Sägen, Pressen, Mostereien und sonstigen wasserbetriebenen Technologieanlagen und zücke Bleistift samt Feldprotokoll. Ich notiere Details über Wassereingabe, Rückgabe, die Zentrale, den Zustand des Baches oder Flusses, den Fischbestand und andres mehr. Mit entsprechenden Fotografien vervollständige ich das Werk und lade schliesslich die Daten hoch, zur weiteren Verarbeitung durch im Thema Kompetentere. Wieder ein Tag vergangen! Auch mittlerweile stillgelegte oder noch in Betrieb stehende Kleinkraftwasserwerke sind dabei, insbesondere, wenn sie jener Lizenz entbehren, die ihnen einen umweltgerechten Lauf bestätigt. Wer mehr darüber wissen will, mag mein Posting über ehehafte Wasserrechte lesen.
Wasserkraft ist gut, das haben wir alle in der Schule und von den Medien gelernt, viel viel besser als die CO2 Schleudern der Kohlekraftwerke oder Hochrisiko – Kernkraftwerke. Reinliche, „gute“, ökologisch verträgliche Energie soll mit diesen Wasserkraftwerken gewonnen werden können. Besondere Sympathien gilt dabei den Kleinkraftwasserwerken, da sie offenbar regional auf den konkreten Strombedarf zugeschnitten sind und sich im Sinne von Small is Beautiful mit Lokalkolorit schmücken können. Doch Grün ist oft nicht, was von sich behauptet, Grün zu sein. Skepsis und genaues Hinsehen sind immer angebracht. Es kömmt wohl immer darauf an: auf die ökologischen Kosten und den volkswirtschaftlichen Nutzen. Und dieser sieht bei Kleinwasserkraftanlagen nicht gerade ermutigend aus.
Naturschutzorganisationen warnen: Europas Flüsse sind durch eine Vielzahl von baulichen Barrieren nicht nur „dressiert“ worden, wie so manche Zeitung berichtet hat. Diese „Dressur“ hat auch schwerwiegende Folgen für den ökologischen Zustand unserer Fliessgewässer. Dabei geht es nicht nur um Grosskraftwerke oder tiefgreifende Fliesswasserregulierungen, die sofort als „Megaprojekte“ ins Auge stechen. Viele kleine bauliche Massnahmen, die uns gar nicht mehr auffallen, haben die Flusslandschaft Europas in den letzten Jahrhunderten nachhaltig verändert. Bislang wurden 1,2 Millionen Bauwerke an europäischen Flüssen erfasst, seien es Wehren, Abstürze, Rampen, Staustufen oder Kleinkraftwasserwerke – so berichtet zumindest eine Studie, die die Ergebnisse von ausgedehnten Flussuferbegehungen von Forschern zusammenfasst. Diese Hindernisse im natürlichen Flusslauf hätten dramatische Auswirkungen auf die Fauna und Flora im Flussbereich. Viele dieser Barrieren versperren der Weg der Fische und verringen die Biodiversität der Gewässer und Uferflächen dramatisch. Wildwasser gibt es kaum noch mehr. Auffallen tun die kleinen Hindernisse in Bächen und Flüssen kaum, sind sie doch meistens weniger als zwei Meter hoch. Kleinkraftwasserwerke gehören auch zu diesen „Sperren“, insbesondere wenn sie nicht die erforderlichen ökologischen Auflagen erfüllen: Fischtreppen, geeignete Rechenanlagen und ausreichende Restwasserstrecken sind keine Selbstverständlichkeit. Auf der anderen Seite wird der Beitrag der Kleinkraftwasserlagen für die Energiegewinnung oft überschätzt: sie ist vergleichsweise gering. Die ökologischen Nachteile vieler Kleinkraftwasserwerke überwiegen ihre energiepolitischen Vorteile. Der WWF meint dazu:
Die Nutzung der Wasserkraft hat grossen Einfluss auf ein Fliessgewässer. Laichplätze von Fischen werden zerstört, deren Wanderwege unterbrochen und die Gewässersohlen werden verstopft. Viele Kraftwerke dotieren zu wenig Restwasser oder legen die Gewässer teilweise ganz trocken. Auch die künstlichen Hochwasser durch Schwall – Sunk – Betrieb sind vielerorts problematisch. Es gibt aber auch Vorteile, so produzieren Wasserkraftwerke nur wenig CO2 und erzeugen keine Abfälle.
WWF Factsheet Kleinwasserkraftwerke
Aber nicht nur in diese Problematiken arbeite ich mich ein bei meinen Begehungen der Wasserkraftanlagen: auch die historische Komponente ist von Bedeutung. Die Zurichtung und Missachtung der ökologischen Rahmenbedingungen unserer Fliessgewässer haben ihre Geschichte – eine unrühmliche Geschichte, die aber gerne romantisch verbrämt wird, wenn wir etwa an das berühmte Volkslied denken:
Es klappert die Mühle am rauschenden Bach:
Volkslied
Klipp klapp.
Bei Tag und bei Nacht ist der Müller stets wach:
Klipp klapp.
Er mahlet das Korn zu dem kräftigen Brot,
Und haben wir dieses, so hat’s keine Not.
Klipp klapp, klipp klapp, klipp klapp!

Zugegeben, da greift es einem schon recht sentimental ans Herz, wenn wir vor den Industrieruinen vergangener Jahrhunderte stehen, in denen die brave Müllerin oder der gewissenhafte Sägemeister ihren schweren Berufen nachgegangen sind. Der Mythos vom braven LandMANN, der die Bevölkerung im Schweisse seines Angesichts ernährt, wirkt wohl auch hier. Doch das ist offensichtlich Ideologie des 19. und 20. Jahrhunderts mit seiner Volks- und Heimattümelei.
Gewerbetreibenden haben sich damals nicht der Elektrizität bedienen können, die Vieles so einfach zu machen scheint. Sie waren auf die ausgeklügelte mechanische Umsetzung der Wasserkraft in Energie angewiesen. Die Räder, Kurbeln, Wellen und Keilriemen haben dann ein komplexes technisches Gebilde angetrieben, das wir heute nicht mehr aus konkreter Anschauung sondern nur mehr durch museale Vermittlung und aus der Kultur- und Technikgeschichte kennen. Heimatkunde hält dabei mit ihrem Repertoire an heimeligen Bildern nicht hinterm Berg. Mühlenwanderwege gibt es zuhauf, was nicht nur auf die Sehnsucht nach der „guten“ alten Zeit schliessen lässt, sondern auch auf die ehemalige Bedeutung der Betriebe im ländlichen Raum. Heimatvereine nehmen sich gerne der verfallenden Ruinen an und investieren in die ideologische und bautechnische Wiederherstellung der Gebäude in den zerfallenden Landschaften des 21. Jahrhunderts. Eine Heimat wird rekonstruiert, die wie so vieles auf der zunehmenden Zurichtung und Ausbeutung der Natur beruht. Aber das wird meist verschwiegen.
Ein solches Beispiel ist Mühle am Taabach im Toggenburg. Die Mühle selbst war schon im Mittelalter bekannt und wurde erstmals als Mülli zu Zwyselen im Jahre 1551 urkundlich erwähnt. Wie jedes Bauwerk von Wert wechselt es im Laufe der Geschichte nicht nur seine Besitzer, sondern erfährt auch seine ökonomischen Krisen und technologische Innovationen. Die Mühle am Taabach hat schliesslich am Ende ihres Lebenszyklus mehrere Verwendungen unter einem Hut: drei Gebäude, drei Anwendungen und einen Bach, der über einen Felsabsturz aus Nagelfluh in die Tiefe stürzt und dabei so viel kinetische Energie freisetzt, um Getreide zu mahlen, Holz zu sägen und Äpfel zu Most zu pressen. Nach einem Brand im Jahre 1929, von dem viele munkeln, er wäre absichtlich gelegt worden, wird die Mühle stillgelegt. Ihr ökonomischer Nutzen geht schon lange gegen Null. Sie geht aus privater in die öffentliche Hand über. Die Gemeinde Bütschwil – Ganterschwil erwirbt 1987 das Grundstück samt den Anlagen und versucht ihrer Existenz neuen ökonomischen Sinn zu geben. Ein Museumsverein übernimmt die Anlage. Auch die Romantik kann zuweilen in bare Münze umgewandelt werden, wenngleich die Instandhaltung des musealen Objektes beträchtliches Kapital verschlingt. Die bestehende Mosterei wird als Mehrzweckraum wieder instandgesetzt, die Säge repariert und in dem nunmehr halboffenen Mühlengebäude wartet eine nette Sitzgruppe nebst Brätelstelle auf den vom Leben gestressten Wanderer mit seinem Ruhebedürfnis und seinen kulturellen Ansprüchen.

Und wie so oft braucht es auch das romantische Narrativ, um dem Ort ein leicht verständliches, historisches und menschelndes Gesicht zu geben. Die Mühle am Taabach ist da keine Ausnahme. Von den Betreibern wird jene Geschichte herausgestrichen: 1827 soll ein Müller mit seiner Hand in das Kammrad der Mühle gekommen und schwer verunglückt sein. Dieser (wahrscheinlich doch recht häufig vorkommende Arbeitsunfall von Müllern) wird zum Epitheton ornans der gegenständlichen Mühlenhistorie. Maria, Gott und ein geschickter Arzt hätten dem Verunglückten das Leben gerettet. In der nahegelegenen Kapelle am Chromen hängt das entsprechende Votivbild. Darauf ist nebst einem gemalten Bild des Unfalls auch folgender Bericht dokumentiert, eine eigenwillige Rechtschreibung mit inbegriffen:
Es hat Hern Johanis Schönenberger von der Thal Mülle gemeinde Bözenwyl den 29 Wintermonat 1827 durch Unglücklichen zufall in ein Kamrad gewunden und ist durch zutrauen der fürbitt Maria zu Gott und geschickter Arzte wieder Glückich hergestelt worden.
Originalzitat auf dem Votivbild in der Antoniuskapelle in Chromen
Recherche:
- Autorenteam: More than one million barriers fragment Europe’s Rivers. 2020
- Homepage der Museumsgesellschaft Bütschwil. (abgefragt am 17. April 2021)
- WWF Factsheet Kleinwasserkraftwerke: Alles im grünen Bereich? (-> download pdf)
Toller Beitrag, auf mehreren Ebenen. Deine Ausführung über das Pensionstendasein sind mir aus persönlichen Gründen besonders nahegegangen. Und die Wasserkraftwerke: Ich wusste, dass das diese Energiegewinnung auch ihre Tücken hat, aber so genau habe ich mich noch nie mit dem Thema befasst!
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Mir ging es ähnlich. Bis ich dann an diesem Post zu schreiben begann 🙂
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ich find das schön, wenn du in deinen Texten in eine anderes Thema hinein-mäanderst.
Liebe Grüße
Sabine vom 🕷 🕸
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Danke sehr! Manchmal kommt es mir aber mehr wie schleudern vor.
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