
Vor einigen Jahren hat der Deutschlandfunk ein Podcast über den Begriff des Gehens in der Literatur produziert. In den dabei geführten Gesprächen mit den Autoren Edo Popovic (Anleitung zum Gehen, 2015), Tomas Espedal (Gehen oder die Kunst ein wildes, poetisches Leben zu führen, 2011), Ilja Trojanow (Durch Welt und Wiese oder Reisen zu Fuss, 2015) und Gerhard Fitzhum (Auf dem Weg. Zur Wiederentdeckung der Welt, 2014) wird versucht, den verschiedenen Aspektens des Gehens aus literarischer Sicht nachzugehen. Über die vielen Gründe, den Schreibtisch zu verlassen und sich auf den Weg in die Welt zu machen, wird gemutmasst, nicht gespart dabei wird mit vereinfachenden Interpretationen:
„Für Schriftsteller ist das Gehen eine ideale Ergänzung zum Sitzen am Schreibtisch. Und so machen sie sich immer wieder Gedanken über die natürliche Fortbewegung des Menschen.“
heisst es in der Hinweisbox zur Website. Gehts denn vielleicht noch vordergründig-naiver?? Das ist mir nun doch zu blöd und ich lese einigermassen desinteressiert über die literarischen Häppchen hinweg, die uns unter dieser Überschrift angeboten werden. Eine naive Fingerübung eines unbedarften Literaturkritikers, wie ich meine, einer der Literatur mit Morgengymnastik verwechselt! Aber mein verehrter Autor Tomas Espedal ist wieder einmal auf dem Radar des Essays. Und sein Buch übers Gehen wird uns wieder in Erinnerung gerufen. Eine geeignete neuerliche Lektüre für die Quarantäne-Tage, die heute nach 11 Tagen zu Ende sind!
s Espedal wird immer wieder als genialer Grenzgänger zwischen Autobiographie und Roman gefeiert. In der Radikalität seiner Ichbezogenheit entzieht er sich entschieden den zugemuteten Klischees. Schon der Untertitel seines Buches reisst das Spannungsfeld an, in dem sich der Autor bewegt: Gehen oder die Kunst ein wildes, poetisches Leben zu führen. Das nimmt wohl eine andere Richtung als Glaubensbekenntnisse schreibender Jakobsweg-Enthusiasten. In seinem Buch wird sich Espedal nämlich immer wieder an einer Trias von Existenz reiben, die im Wesentlichen die Schreibbewegung bestimmt: (1) Trinken als Stimulans; (2) Gehen als meditative Technik (3) die intellektuelle Auseinandersetzung mit anderen Autoren, deren Spuren wandernd erkundet werden. Von Gott ist freilich nie die Rede.
Der Ich-Erzähler Espedals ist durchaus eine gefährdete Existenz. Alkohol ist sein essentieller Lebens- und Wanderbegleiter, seine Wanderungen sind weit entfernt vom Lifestyle – Wahn der Outdoorbewegung. Alkohol ist dem Wandernden wichtigstes Nahrungsmittelbestandteil. Er wärmt, inspiriert, befeuert Gespräche und bringt den literarischen Genius in Gang. Selbst Wein- und Schnapsflaschen werden auf die Streifzüge mitgenommen, ihrem Gewicht zum Trotz. Und selbst dann, wenn der Rausch den aufrechten Gang verhindert, treibt es den Autor vorwärts: kriechend, wenn es sein muss, unter Tische, in verschüttetem Fusel auf den Böden einsamer Gasthöfe. Erleichtert nehmen wir am Beginn seines Buches wahr, dass der Romanheld seine Familie verlässt und sich dem Gehen ergibt, das macht, was allein er zustandebringt: radikal für sich allein zuständig zu sein. Weg daher mit dem egozentrischen Taugenichts aus der Stube ins Neben-Zivilisatorische!
„Welchen Beruf sollte man denn ergreifen?“, das ist die Frage, die sich die verkrachte Existenz immer wieder stellt. Was kann man noch neben dem Schreiben und Trinken und Nachdenken? Die Antwort darauf ist eine durchaus literarische:
Ausser Schreiben und Denken magst du es, zu gehen. Daraus müsse sich doch ein Beruf machen lassen: ein Vagabund. Herumtreiber. Landstreicher, Wandersmann. (…) Ein Beruf. Endlich. Mit Bruce Chatwin ist das Gehen zu einer Arbeit geworden, denke ich; es erfordert keine Bewerbung, keine Zeugnisse, man macht sich einfach auf den Weg, zur Tür hinaus, jederzeit, geradeaus, in irgendeine Richtung, die offene Strasse hinab, auf zwei langsamen Füssen.
Tomas Espedal: Gehen.
Das Wandern macht trunken, aber nicht berauscht von Natur ist der Erzähler, sondern trunken nach der Gier nach Erlebnis, besoffen vom Leben und angetrieben von literarischen Vorbildern, deren Spuren er verfolgt. Weil es um ein wildes und poetisches Leben geht, das es zu finden gilt, entfernt er sich sehr weit vom Topos des Wanderns oder der Pilgerfahrt. Er GEHT um seiner Selbst willen und letztendlich: um seinen neuen Beruf besser kennenzulernen.
Schon seine Kleidung ist ein Kontrapunkt zu den aktuellen Bekleidungsritualen der Wanderbewegung. Nicht funktional, nicht sportlich, nicht adrett darf es sein, was der Erzähler auf seinen Reisen durch Norwegen, Deutschland, der Türkei und Anderswo trägt, sehr wohl aber ist sie sorgfältig zusammengestellt, um das Aussenseitertum des Trägers zu unterstreichen:
Ich habe mir einen neuen alten Anzug gekauft, einen Zigeuneranzug mit Bügelfalte an den Hosenbeinen, silberblauen Streifen im blauen Stoff, neue Doc Martens-Stiefel, eine Sonnenbrille sowie Verbandszeug und Pflaster;
Tomas Espedal: Gehen.
Und so sucht er sie auf, seine literarischen Kollegen: Rousseau den Naturromantiker, Voltaire den Vernünftigen, Heidegger den Mann mit der Nähe zum Nationalsozialismus, Thoreau, den Nachdenklichen, Chatwin den Berufsgeher, und viele andere mehr, die bei weitem nicht so bekannt sind. Sie alle sind Wesensverwandte, haben sie sich doch ausgiebig mit dem Gehen als Lebensentwurf beschäftigt.

Manchmal wenn ich von meinen ausgedehnten Wanderungen an meinem Ausgangspunkt, den Bahnhof einer charakterlosen Kleinstadt ankomme, sitze ich am Perron und trinke ein Bier. Zur Belohnung für das Erreichte, wie ich mir einrede und um die Mischung an aufkeimendem Muskelkater, Sauerstoffüberangebot, Sonnenlicht und Durst zu verarbeiten. Ein leichter Schwindel erfasst mich dabei, der mich über meinen aufgewühlten Körper hinwegträumen lässt. Neben mir einige Betrunkene, die in Gruppen auf den Bänken des Bahnhofs ihren Hochprozentigen trinken. Der Sicherheitsdienst bemüht sich angeekelt aber korrekt um sie, nimmt Personalien auf, weist sie weg vom Bahnhof. Mich sparen sie aus, trotz der Bierdose in meiner Hand und obwohl ich dasselbe tue wie die Alkoholiker von der Nachbarbank: sinnieren über das Leben und in die Umwelt stieren. Mein Mund-Nasen-Schutz baumelt dabei am rechten Ohr. Ich bin schmutzig und verschwitzt. Alt noch dazu! Aber Aussenseiter darf ich keiner sein, den man wegweist von den Plätzen der Normalen und Wohlanständigen.
Das Gehen: viel ist darüber schon geschrieben worden, selten Klügeres als bei Espedal. Er wie ich mögen das Gehen vor allem, weil es Einsamkeit verspricht. Alles radelt, biked, klettert, wandert, joggt und pilgert, gehen will keiner mehr! Denn beim blossen Gehen wird die Einsamkeit akut, das Dissoziative, das obszöne Wesen, welches über das Leben hinweggleitet, mit einer Leichtigkeit, die unüberbietbar ist. Man GEHT SICH WEG von den Nichtigkeiten des Lebens und dessen Notwendigkeiten: diese Ignoranz der Normalität gegenüber und der Präpotenz gegenüber gutbürgerlicher Attitüde hat naturgemäss Vorteile: man wird frei wie ein Vogel. Zum Aussenseiter wird man und damit einsam. Das ist wunderbar. Man muss nur darauf achten, keinen Anderen über den Weg zu laufen, der noch eine soziaöle Ader besitzt. Deshalb sind sie zu meiden, die Wanderwege, Forststrassen und Tourismusfallen, dann hat man es gut. Selten befahrene und schlecht erhaltene Strassen in unattraktiven und heruntergekommen Gegenden sind ideal, ebenso wie unmarkierte Wege: dort bricht der Mainstream in sich zusammen und die Attraktivität der Natur implodiert. Aber, und das ist gut so: es gibt auch die (Hegelsche) Naturschönheit, die nicht begangen wird, weil sie der Allgemeinheit unbekannt geblieben ist: sie ist meist weit weg von Parkplätzen, Gasthöfen und Durchzugsstrassen. Sie ist fast unsichtbar, unspektakulär. Dort, im Geheimen, rottet sie vor sich hin, ein letztes Refugium der Stille und Ungestörtheit. Bald werden auch hierhin die Tüchtigen und Braven kommen und was Sinnvolles daraus machen. Dies ist unvermeidlich bei der gegenwärtigen Kapitalisierung der Landschaft.
Das habe ich wahrscheinlich mit Espedal gemeinsam, dass wir beide es lieben, in bestimmter Weise zu gehen: Bedächtig und achtsam Fuss vor Fuss setzend und dabei das Leben aus der Sicht des Anderen zu begreifen: das ist der Mehrwert der Einsamkeit. BegleiterInnen stören nur, Gehen ist ein intimer Akt und gehört dem Individuum allein. Das Gerede eines Anderen ist dabei mehr als störend. Zum Aussenseiter werden, für eine selbst bestimmte Zeit, einer freilich, der sich nicht selber deklassiert und nicht erniedrigt werden kann. Stolzer Herr ohne Land zu sein, Meister über die eigene, wenn auch beschwerliche Fortbewegung und Verursacher eines durch die Fortbewegung induzierten zu Schmerzes. An der Pein der Anstrengung zu scheitern, aber geduldig sein, weil man (noch immer) zu wenig darin geübt ist, die lange, sehr lange Distanz zu gehen. Es geht auch darum: Dinge zu finden, die man nie gesucht hat und nach Dingen zu suchen, die man nie entdecken und schon gar nicht besitzen wird. Die Überraschung wartet an der nächsten Ecke: immer ist (fast) alles möglich auf den Touren in die andere Welt. Irgendwo las ich, dass der Mensch wieder lernen muss, mit Überraschungen zu leben! Denn es gibt nichts, was kein Risiko hat. Doch das alles versteht nur einer, der dem Rhytmus des eigenen Schrittes, seines eigenen Atmens und seiner eigenen Schmerzen verfallen ist. Und all das: es kostet nichts, ausser den Einsatz seiner Körperlichkeit.
Ein Ziel zu haben, ist natürlich erforderlich: denn selbst der einsamste Geher ist gerichtet auf die Erreichung eines Punktes in der Landschaft. Das allerdings bestimmt den Meister des Flottierens im Ambiente der Landschaft: die Leichtigkeit mit der man das Ziel zu verändern vermag, sich umzudisponieren wagt, es aushält, ungeplant an einem Ort zu verweilen oder den anderen Weg einzuschlagen, der weit wegführt vom Ziel.
Was würden Leute wie ich nur ohne ihre geliebten Begängnisse tun! Es ist quälend, nicht raus zu können ins Freie, ganz gleich zu welcher Jahreszeit. Das draussen gehen, war das letzte Refugium in Zeiten der Pandemie. Und jetzt: am letzten Tag meiner Quarantäne, wo ich ausgehungert bin nach dem Draussen, da kam es mir gerade recht, das Buch von Espedal. So eindrücklich ist es geschrieben, dass man denkt, man geht selbst mit dem Erzähler in dieser seltsam antiqierten Weise durch die Welt.
Ja, ich muss wieder lange, lange Touren, nicht nur Tagesausflüge gehen. Vielleicht einen Monat lang, weg von meiner Schweizer Wohnung hinein in die Schweiz. Erste Pläne reifen. Und die Vorstellung berauscht mich zunehmend: Nicht mehr stehen zu bleiben und auch nicht zu scheitern am langen Gang. Weggleiten, dem Traum vom sich erneuernden Menschen folgend:
Der Traum vom Verschwinden. Vom Fortsein. Eines Tages zur Tür hinausgehen und nicht wiederkehren. Der Traum, ein anderer zu werden. Freund und Familie zu verlassen, sich selbst zu verlassen und ein anderer zu werden; alle Bande abschütteln, Heim und Gewohnheiten zurückzulassen, Besitz und Geborgenheit, Zukunftsaussichten und Ambitionen aufzugeben, um ein Fremder zu werden.
Tomas Espedal. Gehen.
Ein schöner Text – ich habe ihn gern gelesen .
Manchmal muss ich über mich selbst grinsen, wenn ich allein durch die Wälder gehe. Ich genieße es, wenn ich wirklich nur mich selbst und die Geräusche des Waldes höre und dann kommt es – mein Quasi-Ebenbild – allein, mindestens so individuell wie ich – mit Funktionshose und Wanderstiefel.
Wer allerdings einmal erlebt hat, wie ihm Heerscharen von Zecken die Hosenbeine hinaufkrabbeln, der steigt gern in dieses wunderbare Kleidungsstück, das gut bei den Schuhen aufliegt.
Und das Wandern selbst – ohje – keine großen Gedanken – im Gegenteil. Während des Gehens purzeln die vielen Gedanken in meinem Kopf durcheinander, arbeiten sich aneinander ab – dazu alles, was mir Staunenswertes an Flora und Fauna begegnet – und irgendwie ist es am Ende sämig zwischen meinen Ohren geworden.
Auf jeden Fall wünsch ich dir viel Vergnügen bei deiner wieder erlangten Freiheit 🎄 🌲 🌳🎄 🌲 🌳
Liebe Grüße
Sabine vom 🕷 🕸
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Sehr schöner Text, worin ich mich vollkommen wiederfinde. Nur dass es bei mir die Zigarren statt des Alkohols sind, die als Begleiter mitmüssen und an besonders schönen Orten, mit dem Blick über eine Hügelkette oder einen See, ausgepackt und aktiviert werden. Obwohl ich weiß, dass ich danach langsamer voran komme als vorher.
Ich habe mich so ans Gehen als bevorzugte Fortbewegungsart gewöhnt, dass mir schon das Fahrradfahren zu schnell ist. Allein loszuziehen ist tatsächlich unabdingbar für den vollkommenen Genuss, aber ich bin nicht abgeneigt, unterwegs auf andere Wanderer oder Landwirte oder Schäfer zu treffen und ins Reden zu kommen (auch deshalb ist mir das Fahrrad zu schnell, weil man da allenfalls mit einem kurzen Gruß aneinander vorbeirauscht).
Vielen Dank für die Buchempfehlung von Tomas Espedal!
Auch ich habe das Landstreichertum als den idealen Beruf für mich entdeckt – https://andreas-moser.blog/2017/02/04/landstreicher/ -, aber leider noch nicht zur Vollzeittätigkeit erhoben.
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