Der Glattbach unterhalb der Salpeterhöhle

So trägt der einzelne Mensch, der täglich ein Pfund Salpeter herstellt, tatsächlich mehr zum endgültigen Erfolg seines Landes bei, als wenn er seine Muskete schultert und mit all seinen Söhnen auf das Schlachtfeld marschiert.“

Rains, G.W.: Notes on making Saltpetre from the Earth of the Caves. 1861.

Nach dem Enthusiasmus über das Gehen, den ich in kürzlich heftig zum Ausdruck gebracht habe, nun die Ernüchterung. Beim Weg zur Wasserkraftanlage in G. sind mir die bösen Wandergeister derart in die Knochen gefahren, dass sie mir das Gehen ordentlich verübelt haben.

Ich hatte mich für den Weg über die Salpeterhöhle im Tobel des Glattbaches entschieden, eine Entscheidung, die sich wegen der Schönheit der Landschaft angeboten hatte. Doch hatte ich die Rechnung ohne die Wirtin gemacht: Das Wetter war vom nahenden Wetterumschwung geprägt und der instabile Luftdruck belastete meinen Kreislauf. In den Beinen war ich nach der zweiwöchigen, pandemiebedingten Pause steif und ungelenk. Der gesamte Muskelapparat war wie eingefroren. Ich war in übler Stimmung und nicht fokussiert. Müdigkeit von Anfang an. Trotzdem ging ich los, in der Hoffnung, dass sich meine Verspannung bald lösen würde. Nur raus aus G., so schnell wie möglich. Diese versiegelte Kleinstadt mit ihren geschmacklosen und totgemähten Vorgärten und putzsüchigen Hausbesitzern ist mir ein Graus. Gehen, gehen, gehen: das hilft wohl gegen die allgemeine Unpässlichkeit. Es ist wie so oft: man muss erst einmal in Schwung kommen. So dachte ich.

Bald führt der Weg vom ausgeschilderten Wanderweg weg und über gut erhaltene, aber sehr hohe Treppenstufen hinunter in den steilen Tobel. Das strengte mich zwar an, aber es lohnte. Was ich am Fuss des Tobels vorfand, war von überwältigender Schönheit. Es betraf nicht nur die sehr grosse Höhle, die man zwar seit 1998 nach einem Deckeneinbruch für die Öffentlichkeit gesperrt hat, die aber in ihrer Weite und Tiefe zur weiteren Erkundung einlädt. Vor allem aber der mäandrierende Flusslauf der Glatt rief mein ergriffenes Staunen hervor. Die wilde Flusslandschaft mit seinen umgestürzten Bäumen, den vielfältigen Rinnsalen und bewachsenen Kiesbänken bot eine Vielfalt an Formen, Farben und Bewegung, die mich in ihren Bann zog. Das war wohl die Dynamik der Fliessgewässer, die man immer wieder beschwor, weil sie längst den regulierten Rinnsalen gewichen war. Ich sass und staunte und trieb mich dann neugierig und aufgeregt im Bachbett herum.

Doch ich sollte ja weiter voranstreben, hin zu meinen Aufgaben als Gewässerbeobachter. Es ging sehr steil hinauf über den Tobelrand zur Ruine Helfenberg, danach gleich wieder hinunter ins Espeltal. Mir zitterten die Knie. Ich war bereits jetzt überanstrengt und hatte die Sondierung der Wasserkraftanlage noch vor mir. Ich fühlte mich unsicher, war erschöpft und unterzuckert und war nur mehr angetrieben durch meine Vorsätze, die langsam aber sicher erodierten. Vorbei an der riesigen Staumauer der Talsperre Buchholz kam ich dort an, wo mein eigentliches Ziel lag: in Chressbrunnen.

Nach Passieren eines von der Schweizer Armee angelegten Steiges über den Glattbach kehrte ich widerwillig zu den alten Routinen des Gewässerbeobachtens zurück. Eine Aufgabe wollte erledigt werden! Das übliche Sondieren, um sich im Gebiet zu orientieren, das Suchen nach der Wasserentnahme und -rückgabe im schwer zugänglichen Bachbett, die fotographischen Aufnahmen in der richtigen Perspektive, das Suchen und Finden, das Rutschen und Steigen und Stolpern – das alles wollte gewissenhaft abgewickelt werden. Dann, nach erfolgreicher Dokumentation des Kleinkraftwerks in Chressbrunnen kam der mühsame Rückweg nach G. auf einem alten Dorfweg, der mir überraschende Einblicke in die Hinterhöfe der Bauernhöfe gewährte. Von diesen aber nahm ich aus Müdigkeit kaum Notiz. Am Ausgangspunkt der Wanderung in G. angelangt, weiss ich, dass die vergangenen Stunden definitiv nicht meine waren. Mit schmerzenden Gelenken und einer zu Schwindel führenden Überzuckerung wartete ich am Bahnhof deutlich gezeichnet auf meinem Zug – und nahm prompt den falschen. Die alte Unkonzentriertheit! Der Tag war nicht geschaffen für mich.

Von Anfang an hatte sich der heutige Weg wie Stein angefühlt: hart, unnachgiebig und dem Fussgänger feindlich gesinnt. Heute am Tag danach, als ich an diesem Eintrag arbeite, fühle ich noch immer Schmerzen in den Fussgelenken und eine unangenehme Mattigkeit. Der interessante Ausflug war mit einem hohen Preis bezahlt worden: von einer Genusswanderung oder von Naturromantik konnte keine Rede sein!

Doch vom Salpeter soll erzählt werden, dem eigentlichen Grund der Mühsal. Schon bei meiner Lektüre des Armen Mannes vom Tockenburg war mir aufgefallen, dass sowohl der Vater Ulrich Bräkers als auch er selbst dem Gewerbe des Salpetersiedens nachgegangen waren: einem Beruf, den es schon lange nicht mehr gibt und von dem man heute kaum mehr weiss. Indes, bis zum 19. Jahrhundert war dies eine weitverbreitete, wenn auch gering geschätzte Tätigkeit in unseren Breiten. Auch mir sagte der Begriff zunächst nichts, aber das Wort klang im Ohr: Salpetersieden. Manchmal, wenn wir über Dinge lesen, sehen wir notgedrungener Weise grosszügig über Stellen oder Begriffe hinweg, die wir nicht verstehen. Wir wollen uns nicht verlieren in den Verzweigungen der Erzählung und akzeptieren, dass wir nicht verstehen. Als ich aber bei meinen Sondierungen zur heutigen Exkursion lese, dass sich eine „Salpeterhöhle“ in der Nähe befindet, werde ich sofort wieder neugierig. Jetzt habe ich Zeit und Fokus dafür. Dort will ich hin, darüber will ich Lesen und möglicherweise auch schreiben. Ich hätte es bei meiner Kraftwerkstour ja einfacher haben können, allein die Neugier trieb mich zur Höhle hinab. Dort also sollte Salpeter zu finden sein. Oder wurde er dort nur „gebrannt“? Aber das ist eine Frage für später.

Salpetersieder bei der Arbeit.

Auf den ersten Blick hat die Salpetergewinnung nichts mit Höhlen zu tun. Lange vor der landwirtschaftlichen Nutzung des Salpeters wurde er für die Erzeugung von Schwarzpulver benötigt. Salpeter ist ein Nitrat, also ein Salz, welches durch chemische Prozesse immer dort entsteht, wo menschliche und tierische Ausscheidungen in kalkhaltigen Boden sickern. Dann kriecht es nach chemischer Reaktion als weisses Salz die Mauern empor oder bleibt in der Erde erhalten. Die Ställe von Bauernhöfen sind deshalb die idealen Stätten für den Salpeterabbau. Ein Beruf entstand: die sogenannten Salpetersieder, ein schmutziges, armseliges Lohnhandwerk der Armen. Mischte man dann den von ihnen gewonnenen Salpeter mit Holzkohle und Schwefel, so entstand Schwarzpulver, ein stark nachgefragtes Gut. Mit der Veränderung der Kriegsführung durch die zunehmende Verwendung von Schusswaffen, wurde der Salpeter so zu einer immer begehrteren Ware. Die ihrer Macht verpflichteten Landesherren und Städte waren dementsprechend an der kontinuierlichen und sicheren Produktion von Salpeter interessiert. Ihn aus dem Ausland zu importieren, hiess sich in krisenanfälligen Zeiten in grosse Abhängigkeit zu begeben. Das wollte man durch die heimische Produktion vermeiden. Tatsächlich spielte zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert das Salpetersieden auch im Appenzellerland und im Toggenburg eine wichtige Rolle: insbesondere die Städte Zürich, Bern, Chur und Sankt Gallen waren an der Einlagerung ausreichender Mengen an Salpeter interessiert. Der Arme Mann von Tockenburg reflektiert diese Bedeutung sehr eindrücklich. Salpetersieden und Pulvermachen waren wichtige Berufe geworden, beide unter Kontrolle der Herren. Ulrich Bräker berichtet in seinem 1789 erschienenen Buch:

Jakob und Jörg wurden zum Pulvermachen bestimmt, ich zum Salpetersieden. Bei diesem Geschäft gab mir mein Vater Uli M., einen groben, aber geraden, ehrlichen Menschen, zum Gehülfen der in seinem Beruf elend verstorben, da er in einen siedenden Salpeterkessel fiel.

Bräker, Ulrich: Der Arme Mann von Tockenburg.

Die Schwarzpulverproduktion für die Armee sollte sichergestellt werden. Das sogenannte „Salpeterregal“ entstand: darunter verstand man Landmandate, also Berechtigungen, die von Landes- oder Stadtherren an die Berufsgruppe der Salpetersiedler verliehen wurde. Sie durften salpeterhaltige Erde in den Ställen der abhängigen Bauern abbauen, wenn nötig auch ohne deren Zustimmung. Dieser direkte Durchgriff der Landesherren auf die Bauernhöfe der unterworfenen Bauern war eine sehr weitreichende Ausdehnung der Landesmacht und ein sehr ungeliebter Eingriff in das unmittelbare Lebensumfeld der Bauern. Dementsprechend unbeliebt waren die Salpetersieder, die durchs Land zogen und dabei allseits schief angesehen wurden.

Da das Abkratzen der Salpeterausblühungen an Wand und Mauerwerk jedoch keinen ausreichenden Ertrag sicherte, ging man rasch dazu über, die Holzböden der Ställe aufzureissen, die salpeterreiche Erde auszuheben und an einen Produktionsort zu verbringen. Hans Amann beschreibt den Prozess der Salpetergewinnungaus diesen speziellen Erden:

Die übelriechende Masse aus Kuhmist und Erde, die um die Kuhställe und auf den Wiesen zusammengekratzt werden müsste, wurde zusammen mit Wasser, in welches einige Zeit vorher Buchenholzasche (Pottasche) eingelegt worden wer, gekocht, später abgesiebt und eingedampft. Das weissliche Salpetersalz setzte sich am Gefässrand nieder und konnte abgekratzt werden.

Amann, Hans: Auch Ulrich Bräker machte aus Kuhmist Schiesspulver. 1998.

Hatte man also den Salpeterlehm zur Höhle im Glattobel hinabgetragen, um sie dort zu verarbeiten, zu „brennen“ wie ich anfangs angedeutet hatte? Nähere Informationen über die Salpeterhöhle bei G. gibt es im Netz keine, einer hat hier vom anderen abgeschrieben, kunstvoll wurde hier um den heissen Brei herumgeredet: „Wahrscheinlich wird sie so genannt, weil dort früher Salpeter gebrannt wurde.“ Dass man aber in der Höhle nur verarbeitete sondern nicht abbaute, erscheint unwahrscheinlich. Die Mühen des Transports hätte man wohl kaum auf sich genommen. Also, musste die Höhle wohl selbst Salpeter von sich gegeben haben. Dafür finden sich entsprechende Belege aus anderen Weltgegenden. Bertram Schmidkonz berichtet in einem Aufsatz über Salpeter, der aus Höhlenlehm gewonnen werden kann. An einer Höhle in Kentucky (USA) beschreibt er die Vorrichtungen, mit der das Natriumkalzit der Höhle aufgefangen und weiterverarbeitet worden war. Er beschreibt wie Wasser aus einem kleinen Wasserfall, der über den Höhlenrand herabgerieselt war, mittels Holzröhren in das Höhleninnere geleitet worden war, um dort in grossen Trögen die Sole auszuwaschen, aus der dann die Salpetererde gewonnen wurde. Vorbedingung war freilich, dass die in der Höhle angesiedelten Mikroorganismen das Gestein in Nitrokalzit umgewandelt hatten. Das schien auch in der Salpeterhöhle von G. der Fall gewesen zu sein.

Bleibt noch eine Frage zu erörtern: Warum ist der Beruf des Salpetersieders mit einem Mal am Beginn des 19. Jahrhunderts ausgestorben? Das hängt sicherlich mit den Funden von Salpeter im ariden Klima Chiles zusammen. Dort wurde ab 1830 Chilesalpeter abgebaut, der rasant den gesamten Weltmarkt eroberte. Bald krähte kein Hahn mehr nach den Fertigkeiten der heimischen Salpetersieder mehr. Zudem war es auch gelungen, salpeterfreies Schiesspulver zu erfinden. 1869 schloss die letzte eidgenössische Salpeterraffinerie in Bern.

Wen allerdings das lateinamerikanische Kapitel der Salpetergeschichte neugierig gemacht hat, dem sei der sehr stimmungsvolle Beitrag des reisenden Reporters aus Humberstone empfohlen.

Salpeterhöhle (Gossau, SG)

Recherche:

  • Amann, Hans: Auch Ulrich Bräker machte aus Kuhmist Schiesspulver. Salpetersieden im Appenzellerland und Toggenburg. In: Appenzeller Kalender, 1998.
  • HLS: Salpeter.
  • Schmidkonz, Bertram: Die Gewinnung von Salpeter aus Höhlenlehm. 1958