Trockenwiese: eine sehr seltene Erscheinung!

In meiner studentischen Jugend habe ich die Ästhetik Hegels gelesen und bis heute ist mir ein philosophisches Gegensatzpaar in Erinnerung geblieben: Naturschönes versus Kunstschönes. Denn dass die Natur an sich schön sein könne, ebenso wie die vom Menschen produzierte Kunst: das ist seit Hegel fast schon triviales Gedankengut. Nur der von mir hochverehrte Theodor W. Adorno hat in seiner Ästhetik sofort tiefgreifende Zweifel angemeldet: denn jede Theorie des Naturschönen falle unweigerlich in die Hausbackenheit des 19. Jahrhunderts zurück. Desilluionierung pur nach der Katastrophe von Auschwitz! Was bleibt ist „falsches“ Naturschönes, nach dem Gusto des bescheidenen Betrachters. Dieses Gefühl, mir bei meiner Begeisterung über die Natur etwas vorzumachen, beschleicht mich immer wieder. Etwa, wenn ich mir gegenwärtig die vielen Äusserungen zu Gemüte führe, welche die Natur als schön, paradiesisch, gesund, esoterisch wichtig und nachhaltig wertvoll beurteilen. Was aber, wenn es die Natur nicht mehr gäbe, wenn heute die Kultur die Natur derart verdrängt hätte, dass nichts an Ursprünglichkeit übergeblieben ist? Wenn nichts als die Naturgewalten herrschten, mit ihrem Schrecken, mit Hagel, Dürre, Überschwemmung und Flächenbrand? Wenn sich solcherart die Natur komplett ihrer Schönheit, die der Mensch demütig bewundern darf, entledigt hätte? Wenn also gar die Wildnis (id est: das vom Menschen Ungeordnete, frei sich Entfaltende) nur mehr eine wirre Phantasie wäre, in die wir uns angesichts der weitgreifenden Klimakrise zurückziehen, statt zu kämpfen? So wird möglicherweise das Gerede vom „Schönen in der Natur“ zum idyllischen Biedermeier, das nur mehr wenig zusammenhang mit der Realität hat.

Das alles fiel mir beim gestrigen Spaziergang entlang von Murg, Hochwacht und Ägelsee ein. Auch ich bin biedermeierlich-hausbacken unterwegs, denn meine Frau, die sich bei derart schwül-heissem Wetter lieber in ihrem Home-Office versteckt, hat sich einen Blumenstrauss gewünscht, frisch gepflückt in den grünen Weiten Mostindiens rund um Wil. Keine geschützten Arten, um Himmels willen, nein! Da müsste ich besonders achtsam sein. Ein einfaches Unterfangen, meint ihr? Auch möchte ich vielleicht Schafgarbe sammeln, sie zuhause trocknen und so ein Heilkraut gewinnen, welches vortrefflich bei vielen Befindlichkeiten helfen soll. Alles soll es heilen und zugleich auch schädlich sein, wie sich eine Website names Kostbare Natur gleich selbst aus der Verantwortung stiehlt: „Die Schafgarbe hilft Ungleichgewicht zu beseitigen und hat eine gegensätzliche Wirkung. So ist sie ein großes Heilkraut, kann aber genauso durch übermäßigen Konsum Krankheiten auslösen.“ Grossartig!

Noch immer habe ich meine Jugend vor Augen, wo ich nicht nur Hegel und Adorno gelesen habe, sondern auch gerne wandernd über ausgedehnte Blumenwiesen gestreift bin, voller jugendlicher Blindheit für das konkrete Naturschöne um mich herum. Das will ich so gerne heute wieder erleben, mit der Ruhe und der Achtsamkeit des Alters. Doch die Blumenwiese, wo ist sie geblieben?

Die gestrige Wanderung war enttäuschend. Die Realität schaffte es, mir während fünf Stunden meiner Wanderung die Laune zu verderben und mein hausbackenes Vorhaben, Wiesenblumen und Heilpflanzen zu sammeln, restlos zu verpatzen. Denn: die Blumenwiesen gibt es, zumindest in der näheren Umgebung meines Dorfes in Mostindien nicht mehr. Ausgedehnte Anbauflächen erstrecken sich in der hügeligen Landschaft, die jeden Quadratmeter Landes nutzen, der auch nur verfügbar ist. Schweizer Gründlichkeit in Extenso. Chemiewüste überall. Da wachsen keine Wiesenblumen mehr, da gibt es keinen Wildwuchs und keine Trockenwiese, da kann die Vielfalt nicht bestehen. Es herrscht die Agrarwüste, die sich zwar in Grün und Braun und Ocker kleidet, aber keine Buntheit mehr zulässt. Glücklich der, welcher ein Mohnfeld findet. Alles an Fläche wird genutzt. Bis zu den (meist asphaltierten) Feldwegen und an die Ufer der Bäche reicht der Gestaltungswille der Bauernschaft, den kantonalen Vorschriften das eine oder andre Mal zuwider handelnd muss produziert, produziert und produziert werden. Öffentlich zugängliche Blumenwiesen oder zumindest schmale Feldraine gibt es nicht mehr. Heilpflanzen auf Wiesen zu sammeln ist auch deshalb nicht ratsam, weil der Pestizideinsatz der Schweizer Landwirtschaft einer der höchsten In Europa ist. Mit dem Sterben der Natur stirbt auch die Heilpflanze. Logo. Und wer schon möchte sich schon das Gift im dem Wege der sgn. Natürlichkeit eines Heilmittels verordnen. Im Wasser und den Lebensmitteln ist genug.

Keine Blumen, keine Bienen und keine Schmetterlinge. Weggefressen wird alles nicht vom tierischen Schädling, sondern von der hochsubventionierten und hochindustrialisierten Landwirtschaft, die immer wieder mit dem Argument der Natürlichkeit und Gesundheit argumentiert. Wer Heidi’s Mist liest, weiss wovon ich spreche. Und plötzlich erleben wir im Zuge einer aufflammenden Naturbegeisterung ein Paradoxon: während die Natur landauf, landab zugrunde geht, erblüht sie an Kreisverkehren, an Schotterstreifen und anderer Brachen entlang der Autostrassen und ungenutzten Ödflächen. Nachdem früher „Guerilla Gardening“ von London aus seinen Siegeszug auch in der Schweiz antrat, haben mittlerweile vom Kanton oder der Gemeinde bezahlte Gärtner sogenannte Ruderalflächen angelegt, auf denen die Wiesenblumen sich in aller Pracht den Abgasen der Autos entgegen neigen. Minigärten entstehen, die uns beruhigen sollen, wo doch die Blumenpracht durch die ungehemmte Landwirtschaft zugrunde geht.

Ruderalflächen, also nicht bzw nicht mehr genutzte Flächen, sind oft ökologisch interessante Lebensräume. Arten, die ursprünglich auf Schotter- und Kiesbänken entlang von Flüssen und an Schutthängen vorkommen, finden hier von Menschen gemachte Ersatzlebensräume. Auch Ackerbegleitarten, für die in der intensiven Landwirtschaft kein Platz mehr ist, besiedeln Ruderalstandorte. Sogar Industriebrachen mit belasteten Böden sind manchmal Lebensräume für Standortspezialisten, zB salzertragende Pflanzen oder schwermetallresistente Arten.

Naturtipps: Ruderalflächen.

Es ist eine jener Initiativen, mit der sich auch die kantonale Verfasstheit Mostindiens hervortut. Weil sonst nichts mehr geht, dürfen sich die Gutwilligen und Zukunftsorientierten mit Unterstützung des Kantons hervortun: Initiative Vorteil naturnah heisst die Aktion. Das Ganze scheint auch bereits eine gute Geschäftsgelegenheit zu sein. Zumindest in Sirnach, Eschlikon und Fischingen hat eine Geschäftsidee Einzug gehalten, die Re-naturierung von Siedlungsraum: Re-natura.ch. Während sich die dörflich und kleinstädtischen Strukturen im schon fertig versiegelten Gelände um ein wenig (und sagen wir es offen: mickrige) Naturnähe (und Naturschönheit) bemühen, während die Gemeinden die letzten Tümpel und Trockenwiesen der Umgebung mit Infotafeln bestücken, beackern Pestizidbauern jedes freie Fleckchen Natur, Artenvielfalt und Klimakrise frech leugnend. Gleichzeitig wird das Vorurteil vom Städter bemüht, der eben keine Ahnung von der Natur habe und von den Mühen einer hochsubventionierten Landwirtschaft. Er sei naiv und schlicht links radikal, sie im besten Fall eine Träumerin. Und so kommt es dann auch, dass Blumen, Heilpflanzen und die Diversität in der Natur in meinem Teil Mostindiens fast nur mehr in Privatgärten, geschützten Naturräumen und auf Ödflächen an den Strassenrändern zu finden sind. Vorbei mit dem Naturschönen, endgültig. Alles ist gemacht, recht schlecht halt und nur selten verantwortungsvoll die Zukunft unserer Enkel bedenkend. Es wird wohl nötig sein, die Blumen im Migros zu besorgen, aus ökologischer Zucht sind die manchmal, insbesondere die Rosen nicht giftbesprüht. Das beruhigt das Gewissen und macht nen schlanken Fuss.

Aber ich habe nochmals Glück gehabt. An einem kleinen, vom Fortschritt vergessenen, kleinen dreieckigen Stück Wiese an der Einmündung der Strasse in die Brücke über die Murg waren ein paar wenige Blumen zu finden: Neophyten meistens, wahrscheinlich nicht von Hunden angepisst. Die habe ich gepflückt, ein dürftiges Stück Naturschönes, die letzten Blumen eines langen Ringens um die Zukunft. War das eine Ruderalfläche? Oder bloss ein Stück Wiese? Wir wissen es nicht. Die Blumen jedenfalls machen sich gut in der Vase auf dem Esstisch. Auf die Schafgarbe habe ich verzichtet die gab es in seltenen Fällen am Rand des Spazierwegs, dort, wo sich die Hunde erleichtern. Pech gehabt. „Sei zufrieden, mit dem, was du hast„, hätte man mir in meiner Kindheit bei einer solchen Gelegenheit gesagt. Und man hätte mir neben diesem Tadel mir auch den guten Rat auf den Weg gegeben, nicht immer mit der Gesellschaft zu hadern. „Erfreue dich der Blumen am Wegesrand !,“ das wäre die Moral von der Geschicht‘ gewesen.

Am späten Abend ist dann wieder ein Hagelsturm über unser Dorf gefegt. Die extrem heisse Luft des Tages hatte eines jener Unwetter „an Land gezogen“, welche derzeit in unseren Gefilden die Ernte in Frage stellt. Sensationelle Wolkenformationen sind das, vom Chronisten der Sirnacher Facebook – Gruppe gerne abgelichtet. Gruseliges Naturschönes! Mühsam jedenfalls. Auch die selbstgepflanzten Ringelblumen auf unserer Terrasse sind der Extremwetterlage, die zur Normalwetterlage geworden ist, zum Opfer gefallen. Totgeschossen durch das Eis. Sie wären ohne Pestizide grossgezogen worden. Schade drum. Die Schwiegermutter muss auf die selbstgemachte Ringelblumensalbe eben verzichten.

Ängstlich habe ich nach dem Sturm nach den Raupen gesehen, die sich an unserem Fenchel gütlich tun und schon bald zu wunderschönen Schmetterlingen werden. Ich denke, ich werde ihnen auf Anraten meiner Frau ein Raupenhaus basteln, aus Holz und Fliegengitter und dieses wettergeschützt aufstellen: sonst überstehen sie die kommenden Hageltage nicht. Rettung von Raupe und Schönheit, in einem Pensionistenleben. Man tut eben, was man kann und fühlt sich oft ganz vergessen dabei.

Recherche:

Tagblatt 11.02.2021: Genussvoll durch Wiesen, Wälder und eine einzigartige Moorlandschaft.