Conrad Gessner: De Lupo, 16. Jh.

Eigentlich stand die Ausstellung Der Wolf – wieder unter uns im Zentrum meines Ausfluges nach Frauenfeld. Doch, wie ich schon in einem meiner vorherigen Beiträge geklagt habe, war ich mehr als enttäuscht von deren Konzept und Umsetzung. Das geht aber nicht, ohne vorher ein wenig über den Wolf nachzudenken: den Wölfen in meinem Leben, genauer gesagt.

Als ich in der Frauenfeld-Wil-Bahn sitze und entlang der Murg in die Hauptstadt Mostindiens gondle – übrigens eine hübsche Erfahrung in Sachen Geduld und Besinnlichkeit – da denke ich an Jack Londons Roman aus dem Jahr 1906: White Fang (Wolfsblut). Ein Rudel Wölfe folgt in Zeiten ärgster Hungersnot einem Gespann mit Schlittenhunden. Zwei Männer versuchen einen Sarg in die nächstgelegene Siedlung zu bringen und sehen sich mitten in der Wildnis einem mit grosser Heftigkeit angreifenden Wolfsrudel ausgesetzt. Ein Schlittenhund nach dem anderen fällt den Angriffen der Wölfe zum Opfer. Auch einer der beiden Männer wird angefallen und stirbt. Der Winter und die Wölfe sind gnadenlos – das ist die Botschaft aus der Wildnis. Nur eine Person überlebt und wird schliesslich gerettet. So beginnt der Roman von Jack London, der das Leben einer Wölfin erzählt, die zum Teil von Hunden abstammt: ein Klassiker des Abenteuerromans des 20. Jahrhunderts. Damals, als noch Erzählung und Geschriebenes die Phantasie von Heranwachsenden erfüllte und nicht Gaming und Streaming, war Jack London das Non Plus Ultra der unsicheren und von Fantasien geplagten Knaben. Denn derart gnadenlos gekonnt erzählte nur er von den reissenden Tieren in der Wildnis des amerikanischen Kontinents. Hier wurden Männer geboren! Gleichzeitig aber gibt er den scheinbar grausamen Tieren eine Seele: er versetzt sich in deren Leben, lässt uns teilhaben an deren Werden und Vergehen und misst ihrem Leben ganz entschieden Wert zu. Sie sind keine Objekte, sondern beseelte Wesen, die in einem eigenartig emotionalisierten Verhältnis zum Mensch stehen. Im selben Buch folgt er deshalb einem Tier des Packs, einer mittlerweile trächtig gewordenen Halb-Wölfin. Sie zieht sich in eine enge Höhle zurück und wirft dort 5 Welpen. Jack London wechselt die Erzählperspektive von der Sicht des Menschen hin zu einem heranwachsenden Wolf (= Wolfsblut) und nimmt uns mit zu einer eigenartigen Bindung an ein Tier.

Bucheinband der Erstausgabe aus dem Jahr 1906, Wikimedia Commons

Die spannende Erzählungen Jack Londons haben das Bild, das sich von Wölfen im Mindset meiner Jugend festgesetzt hat, nachhaltig geprägt. Das wilde Tier war das Andere der Zivilisation, aber gleichzeitig auch das Alter Ego des Menschen und seiner Befindlichkeit in der Wildnis. Zwar wurde von der Natur als Lebensgrundlage des Menschen nie direkt gesprochen, doch das intime Verhältnis des „Herren“ zu den ihm von einem christlichen Gott anvertrauten Tieren war evident. Ein Bild existiert noch immer in mir: das des Wolfes als gefährliches Raubtier, das es in unseren Breiten nicht mehr gibt. Gleichzeitig verbindet mich eine tiefe Sympathie mit diesem Tier. Heute indes weiss ich, welch grosse Fehler in der Behandlung der uns anvertrauten Welt jahrhundertelang gemacht wurden und welche Konsequenzen wir jetzt und in Zukunft zu gewärtigen haben. Denn nicht der Mensch ist „Herr“ über die Natur und deren Lebewesen, sondern er ist Teil von ihr und abhängig von deren Bestand. Welch gefährlicher Irrweg wird doch da im Alten Testament vorgeschrieben:

Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie und waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen!“

Genesis, 1,28

Auch viele Märchen haben zu dem Bild und der merkwürdigen Distanz beigetragen, die wir dem Wolf entgegenbringen. Das Märchen Der böse Wolf und die sieben Geisslein ist nur ein Beispiel für die Verunglimpfungen des Tiers in der Literatur. In dieser Grimmschen Erzählung präsentiert sich der Mensch als souveräner und grausamer Herrscher über die Natur und seine Lebewesen. Die Geisslein sind sein Eigentum und deshalb wird der Wolf für sein Beuteverhalten grausam bestraft. Mit einer Schere öffnet die Mutter den Bauch des Wolfes, der gerade die Geisslein verspeist hat. Statt dessen näht sie ihm Steine im Bauch. So wird den Kindern im Märchen die unbedingte und unveränderliche Herrschaft des Menschen über das Tier nahegebracht:

„Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum?
ich meinte es wären sechs Geislein,
so sinds lauter Wackerstein.“

Grimm, Volksmärchen: Der Wolf und die sieben Geisslein.

Wie also lebt man mit dem Wolf? Am Besten ohne ihn, meinen gestern wie heute Viele und sorg(t)en für sein Verschwinden. So geschah es auch in den Alpen, wo der Wolf im Laufe des 19. Jahrhundert fast überall als ausgerottet galt. Nun lebt er wieder, er ist in den letzten Jahrzehnten aus Italien eingewandert, und erholt sich langsam in seinem Bestand. Vor dem Hintergrund der jahrhundertealten Mythen vom bösen Wolf ist aber die Auseinandersetzung mit ihm von einer Reihe von Irrationalismen geprägt, die heute gerne auch für die Durchsetzung von Pro- und Anti-Wolf- Politik bemüht werden. Dass der Wolf lebt, das darf nicht sein. Nur seine Ausrottung garantiert die Lösung des Problems. Wenn man die geifernden Anti-Wolf PolitikerInnen und AktivistInnen aller Coleur im alpinen Raum zuhört, fühlt man sich sehr rasch an den Schweizer „Naturforscher“ Friedrich von Tschudi erinnert, der sich im Jahr 1868, also lange nach dem Aussterben des letzen Wolfes in der Schweiz, zu folgenden wahnwitzigen (und verhetzenden) Bemerkungen über den Wolf hat hinreissen lassen:

„In der Reihe der thierischen Individualitäten nimmt er eine sehr tiefe Stufe ein; selbst unter den Raubthieren ist er eins der widerwärtigsten. Mit dem reissendsten wetteifert er an Heisshunger, der selbst dem schlechtesten Aase gierig nachstellt, an Tücke, Perfidie, während er dabei keine Spur vom Edelmuth des Löwen, von der frischen Tapferkeit des Eisbären, vom Humor des Landbären, von der Anhänglichkeit des Hundes hat.“

Friedrich von Tschudi, 1868, zitiert nach KOR

Mit ähnlichem irrationalen Hass gehen einige Menschen auch heute zumindest verbal gegen die sgn. Grossraubtiere wie Bäre, Luchs und Wolf vor. Gäbe es nicht KORA und den halbwegs vernünftigen Volksentscheid von 2020, wäre ich bezüglich seines Überlebens in der Schweiz sehr pessimistisch gestimmt.

KORA, eine Schweizer Bundesstiftung, die sich mit Raubtierökologie und Wildtiermanagement befasst, hat sich in seiner sehr ausgewogenen Bilanz von 25 Jahren Auftreten des Wolfes in der Schweiz mit seiner Verbreitung, den von ihn angerichteten Schäden, aber auch der soziokulturellen Befindlichkeit von Wolf-Gegnern und Wolf-Befürwortern gewidnet. Wer sich tatsächlich eine balancierte Meinung zum Wolf in der Schweiz machen will, möge sich die sehr detaillierte Publikation von KOR aus dem Jahr 2020 zu Gemüte führen und so vermeiden, dem Geschwafel der Medien oder den verbitterten Emotionalitäten an Stammtischen und in Esoterikkreisen ausgeliefert zu sein. Make an Educated Guess, hiess es einmal in einer Werbung, wir raten hier zum Lesen der kostenlosen Dokumentation (pdf-download). Wer aber gerne mit sinnfreien Verschwörungstheorien in seiner sozialen Gruppe reüssieren will, erzählt weiter die Schreckensgeschichten von Wölfen, die die arme Huftiere aufs Grausamste ermorden, die kleine Kinder in Angst und Schrecken versetzen und den Bauern (trotz Kompensation und Herdenschutzsubventionen) sowie dem Tourismus unerhörten Schaden zufügen. Und er schliesse sich der Meinung an, dass nur Abschuss eine geeignete Methode zum Schutz der Herdentiere vor dem Wolf sein kann. Erst in den letzten Wochen haben ja die Emotionen wieder einmal hohe Wellen geschlagen und es in Österreich sogar in die Nachrichtensendungen gebracht. Der ORF war in seinen Nachrichten wiederum ausserstande, diese Emotionen auf eine rationalere Ebene zu bringen, wie es für eine öffentlich rechtliche Anstalt eigentlich die Aufgabe gewesen wäre. Emotion ist das Eine, der realen Stellenwert der Übergriffe auf das Herdenvieh durch den Wolf eine Andere.

Ach ja, den Schweizer Volksentscheid hätte ich ja fast vergessen, näher auszuführen. Dabei hatte sich das Stimmvolk im September 2020 u.a. gegen den erleichterten Abschuss des Wolfes ausgesprochen. Erst kürzlich hat das sehr empfehlenswerte Blog Wild und Wild darüber berichtet, dass der Bundesrat die revidierte Jagdverordnung beschlossen hat. Sie sieht gottseidank keine präventive Regulierung von Wölfen vor. Die Kompetenz für Eingriffe in ein Rudel bleibt beim Bund. Soweit die Vorgeschichten, die mich zum Besuch der Ausstellung veranlassten. Würde ich dort mehr von der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Wolf erfahren? Doch davon mehr im nächsten Beitrag.

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