Bereits als ich von der Forststrasse den kleinen Weg abbiege, beginnen die Wunderlichkeiten des Tages. Ich bewege mich bachaufwärts im sgn. Josafatstaal nördlich von Eschlikon. Eine Fülle von Schmetterlingen begrüsst mich an Mädesüss Büschen, zu meiner Rechten plätscherte ein Bach. Ein Bach ohne Namen, er ist auf den heutigen Landkarten nicht eingezeichnet: nur auf einer Karte aus dem Jahr 1957 finde ich dort eine Art Wasserfläche verzeichnet, die dem sumpfigen Gebiet entspricht, das ich nun bald betrete. Ein schulterhoher Farnwald mit Schmetterlingen, Libellen und Schnecken, die an den Blätterunterseiten kleben, dazwischen der schmale Pfad: offener Himmel, schwüles Klima. So schön und naturverbunden bin ich schon seit langem nicht in Mostindien nicht gewandert. Nachdem ich einen kleinen, kaputten Steg über ein Gerinne überquert habe, trete ich in einen düsteren, sehr feuchten Wald mit vielen umgestürzten Bäumen, die teilweise den schmalen Pfad versperren.

Vieles von diesem Ort lerne ich erst später, als ich zuhause ein wenig im Internet recherchiere. Das, was ich dort erfahre, deckt sich aber merkwürdigerweise mit der eigenartigen, fast sakralen Stimmung, in der ich das heutige Kunstwerk im Grenzorbit vorfinde. Doch der Reihe nach! Zunächst: Ich befinde mich in einem abgelegenen und offenbar wenig besuchten Waldstück: im Josafatstaal. Ein merkwürdiger Name, der noch kurioser wirkt durch die Erklärungen auf der Infotafel, die die Station 3 des Grenzweges bezeichnet. „Das Tal Josafat ist ein Symbolname für den Ort des endzeitlichen Gottesgerichts.“ Das klingt düster-geheimnisvoll, ein sakraler Ort an dieser Stelle? Ein Relikt aus dem Mittelalter? Im Schweizer Ortsnamenverzeichnis werde ich nach etwas längerem Suchen fündig. Ich stosse auf den Hinweis, dass dieser Flurnamen ein abgelegenes Tal bezeichnet, an dem man sich den Ort für ein göttliches Gericht vorstellen würde. Tatsächlich handelt es sich bei dem Namen um eine Ableitung des biblischen Tals Joschafat, an dem laut jüdischer/christlicher Vorstellung das Weltgericht stattfinden wird:

Denn siehe, in jenen Tagen und zur selben Zeit, da ich das Geschick Judas und Jerusalems wenden werde, will ich alle Völker zusammenbringen und will sie ins Tal Joschafat hinabführen und will dort mit ihnen rechten wegen meines Volks und meines Erbteils Israel, weil sie es unter die Völker zerstreut und sich mein Land geteilt haben; sie haben das Los um mein Volk geworfen und haben Knaben für eine Hure hingegeben und Mädchen für Wein verkauft und vertrunken. (…) Die Völker sollen sich aufmachen und heraufkommen zum Tal Joschafat; denn dort will ich sitzen und richten alle Völker ringsum. Greift zur Sichel, denn die Ernte ist reif! Kommt und tretet, denn die Kelter ist voll, die Kufen laufen über, denn ihre Bosheit ist groß! Es werden Scharen über Scharen von Menschen sein im Tal der Entscheidung; denn des Herrn Tag ist nahe im Tal der Entscheidung. Sonne und Mond werden sich verfinstern und die Sterne ihren Schein zurückhalten.

Lutherbibel, Joel 14
Detail aus dem Weltgerichtstryptichon von Hieronymus Bosch. Wikimedia Commons

Mit dieser Wucht an Bedeutung und prophetischer Bestimmtheit hatte ich in diesem Wald nicht gerechnet. Es erschien mir geradezu absurd, dass hier ein Ort mit dieser biblischen Aufgeladenheit existieren sollte. Zudem soll sich ja das Tal Joschafat den Quellen entsprechend im heutigen Jerusalem, befinden. Andere wiederum sagen, dass es sich um eine symbolische Umschreibung für das Jüngste Gericht handeln soll. Die Wahrheit ist aber noch ein Stück verdrehter. Denn die früheste Quelle, die diesen Ort oberhalb von Eschlikon so bezeichnet hat, stammt aus dem Jahr 1788. Damals war noch die Erinnerung an einen häufig gebrauchten Fluch erinnerlich, den Menschen ausgestossen haben sollen, die von der weltlichen Rechtssprechung enttäuscht wurden. Sie verfluchten Richter oder Gegner auf besondere Weise. Auf Gerechtigkeit musste man nicht bis zum Jüngsten Gericht warten, sondern konnte auch binnen kurzer Frist Genugtuung erlangen. Man übermittelte dem ungerechten Richter bzw. dem der gerechten Strafe entgangenen Gegner eine Ladung ins Tal Josaphat, wo ein göttliches Gericht über die Wahrheit entscheiden sollte. Dabei sprach man für die Vorladung eine Frist aus, binnen derer man sterben würde: denn Gott wird nicht über Lebende, sondern nur über Tote richten. Eine Ladung auszusprechen bedeutete, dass Ankläger und Beschuldigter nach gesetzter Frist starben. In manchen Fällen führte ein derartiger Fluch auch „nur“ dazu, dass grosses Ungemach über den Beschuldigten kam. Waren Ankläger und Angeklagter tot, konnten sie vor ihrem Richter erscheinen und göttliches Recht würde gesprochen werden. Ein derartiges Rechtsverständnis ist vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert bezeugt. Sogar vom Beginn des 20. Jahrhunderts wird noch folgender Fall berichtet:

Es war um das Jahr 1917, als zu Wassen ein Mann nahe an dem Nachbarhause, das einer alten Witwe gehörte, ein Waschhaus und ein Sauställchen baute. Doch kam er ihr nicht vors Licht; er deckte das kleine Gebäude mit einem flachen Dach. Dennoch prozessierte die Witwe mit ihm, verlor es aber vor allen Instanzen. Da meinte sie: »Hesch-es jetz gwunnä, wiä d’hesch wellä, das gilt alls nytt; miär machet das im Tall Josaphat midänand üss.« Wenige Tage später starb diese Frau an Altersschwäche; der Bedrohte, der ihrem Ausspruche Glauben geschenkt hatte, wurde bald hernach von der Grippe überfallen und folgte genau am achten Tage der Witwe im Tode nach.

Lexikus Biblipthek: Ladung ins Tal Josaphat

Sie werden sich also vor dem Gottesgericht getroffen haben. Denn laut jüdisch/christlicher Auffassung haben die Taten eines Menschen über seinen Tod hinaus Folgen. Und Gott und seine engsten Getreuen im Himmel richten wohl immer der Wahrheit gemäss.

Derartige (und als Fluch mit Todesdrohung) angekündigte Ladungen ins Tal von Josaphat sind, wie gesagt, schon aus dem Mittelalter bekannt, freilich durch die weltliche Rechtssprechung, die derartige Flüche und Vorladungen unter strengste Strafen stellte. 1637 erliess der Abt von St. Gallen ein Mandat gegen das Fluchen und Schwören. Schwere Geld und „Leibesstrafen“ wurden über jene verhängt, die andere ins Tal Josaphat luden. Das verurteilte die weltliche Gerichtsbarkeit natürlich nicht nur als Missachtung und Infragestellung ihres Amtes sondern darüber hinaus auch als Gotteslästerung. Der Beispiele sind viele, wie etwa Eduard Ochsenbrüggen aus dem 15. und 16. Jahrhundert nachweist. Hier ein anderer überlieferter Fall:

Als in Freiburg ein gewisser Mertz einen Process verloren hatte, trat er plötzlich in den Gerichtssaal und lud die Richter mit feierlicher Miene drei Tage nach seinem Tode in dem Thal Josaphat zu erscheinen, um dort gerichtet zu werden. Dabei warf er einen Pfenning von ausserordentlicher Grösse in den Saal. Man nöthigte ihn die Ladung zurückzunehmen und steckte ihn sechs Wochen ins Gefängniss.

Ochsenbrüggen, Eduard: Studien zur deutschen und schweizerischen Rechtsgeschichte. 1868

Einer anderen Untersuchung zufolge ist die Ladung ins Tal Josaphat eher als Zauberspruch und Fluch, denn als zorniges Gebet zu bezeichnen, denn derjenige, der die Formel der Ladung ausspreche, sei der Auffassung, er könne ein höheres Wesen zu einem bestimmten Verhalten zwingen. Damit wurde die Vorladung zu einem Mittel rechtlicher Selbsthilfe, ähnlich wie die Blutrache. Letzterer wurde in der Schweiz allerdings erst im 18. Jahrhundert ein Ende bereitet. Was die Vorladung ins Tal Josaphat betraf, so lässt sich auch ein soziologischer Zusammenhang herstellen. Wagten es zunächst Geistliche, den andern vor ein göttlichen Gericht zu laden, so waren es ab dem 13. Jahrhundert Adelige, zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert Bürger und seit dem 18. Jahrhundert fast ausschliesslich Bauern. Das erklärt auch das Überleben dieser Vorstellung vor allem in ländlichen Gebieten.

Ich war also im Josafastaal – nun weiss ich mehr mit dem Namen dieses Orts anzufingen. Ich bin eingetaucht in eine jahrhundertelange alte Geschichte, die mit den Weissagungen des Propheten Joel begann, sich in seiner Bedeutung änderte und letzendlich im Verständnis des gemeinen Volks sich als Fluch verfestigte. Der Ort an dem ich stand, war wohl aufgrund seiner Abgeschiedenheit eine Stelle, an dem man sich ein derartiges göttliches Gericht vorstellen wollte. Heute jedoch führt ein Wanderweg (der Eschliker „Grenzweg“) vorbei, der Wald wurde für kurze Zeit zu einer Ausstellungsarena gemacht. Mit dem Fluch, mit der das Ambiente belegt ist, weiss man im Normalfall heute nichts mehr anzufangen. Nur ein Stück Ahnung und sakrale Stimmung überkommt an diesem Ort den sensiblen Wanderer.

Wie allerdings das Josafastaal als Ort des Jüngsten Gerichts mit dem Kunstwerk von Victorine Müller („Le mouvement vegetativ“) einen engen Kontext bildet, darüber berichte ich im nächsten Beitrag.

Recherche:

  • Bischofsberger, Hermann: Das Endgericht im Tal Josaphat. 1957 (E-Periodica)
  • Ochsenbüggen, Eduard: Studien zur deutschen und schweizerischen Rechtsgeschichte. 1868 (Internet Archive)