Mädesüss im Josafatstaal

Die hier beschriebenen 13 Kunstwerke sind Teil des Kunstwegs Orbit, einer Freiluft-Ausstellung, die entlang der Gemeindegrenzen von Eschlikon (TG) bis Anfang Oktober 2021 zu sehen ist. Ich wandere von einem Objekt zum anderen, um zu erfahren, welchen Eindruck diese hinterlassen. In den vergangenen Tagen habe ich bereits folgende Ausstellungsobjekte aufgesucht: (1) Optimist von Elisabeth Nembrini, (2) Persinette, descendez vos chevaux que chez monte von Nicolas Vionnet, (3) From the Earth von Almira Medaric, (4) Welcome to the Jungle von Ursula Palla und (5) Splice von Sonja Rüegg. Nun geht es zum Nächsten.


Es ist ein wundersamer Ort, den ich heute aufsuche. Ich habe mich in meinem letzten Beitrag über den seltsamen Namen Josafatstaal verbreitert und dabei ausgeführt, welchen geheimnisvollen, symbolisch hoch aufgeladenen Charakter der Ort besitzt. Nach der Durchquerung der von Insekten und Schnecken strotzenden Farnwiese stand ich in diesem dunklen, nassen Wald, der nicht nur wegen seiner Düsternis bemerkenswert war, sondern auch wegen seiner Unberührtheit. Ich merkte es erst nach längerer Betrachtung. Überall lagen natürlich gefallene Bäume, den Weg teils versperrend, teils begleitend. Modrig roch es in diesem etwas schwierig zu passierenden Wegabschnitt: morastiger Lehmboden und faulendes Holz überall. Hier hatten wohl seit längerem keine Waldarbeiter Ordnung gemacht und weder geschnitten, gefällt, weggezerrt, gesägt, Holz zu Stapeln geschlichtet, oder Zigaretten am Boden ausgedämpft und Plastikabfälle hinterlassen. Hier wurden die Holzressourcen nicht ausgebeutet; die Gier des Menschen hatte aus mir nicht bekannten Gründen über diesen Wald hinweggesehen, die Natur durfte ihren Willen haben. Ein Stück Land, das nicht zugrunde gerichtet wird.

Einer Infotafel entnahm ich, dass es sich bei dieser etwa 1.54 ha grossen Fläche um eine Altholzinsel handelt, in der über einen Zeitraum von fünfzig Jahren keine menschlichen Eingriffe (ausser für die Aufrechterhaltung des kleinen Wanderpfads) stattfinden würden. Dürres Holz und gefallene Bäume werden dem Artenreichtum eine lokal begrenzte Chance geben. Deshalb bleiben sie liegen. Das Betreten des Gebiets erfolgt auf eigene Gefahr. Denn das Herunterfallen von Ästen und das Umstürzen von Bäumen sei möglich. Offenbar müssen solche formalen Warnungen heutzutage auch in einem Wald ausgesprochen werden: denn die Natur wird als Freizeitanlage für unfallversicherte, um ihr individuelles Wohlergehen besorgte BürgerInnen angesehen. Und diese mündigen und selbstsicheren Individuen sind ohne Weiteres bereit, unsinnige Prozesse zu führen.

Seit 2018 besteht diese Altholzinsel. Wie es dann wohl hier im Jahr 2068 aussehen? Ein seltsamer Gedanke. Ich würde das mit Sicherheit nicht mehr leben und die Menschheit, würde wohl nicht mehr lebensfähig sein. Um meine dystopischen Überlegungen noch mehr zuzuspitzen: Wäre hier nicht der geeignete Platz, um die Vorladung vor das Weltgericht über die ökologischen Verbrechen der Menschheit stattfinden zu lassen? Sollte wir nicht unverantwortliche Politiker und das zynisch kalkulierende Management der Industrie ins Tal von Josaphat laden? Mit ihnen als Angeklagte UND Ankläger zu Gericht sitzen? Wie würde wohl das Weltgericht entscheiden? Meine Phantasie treibt mich in immer wildere Spekulationen.

Objekt 6 – Victorine Müller: Le mouvement végétatif

Website der Künstlerin – Werkbeschreibung (pdf Download)

Victorine Müller: Le mouvement végétatif.

Das Kunstwerk schwebt also hier nicht zufällig im Raum. Neben dem Josafastaal und dem fünfzigjährigen Memorandum zugunsten der Altholzinsel ist sie meine dritte und wahrscheinlich stärkste Erinnerung an das Leben in unser aller Verantwortung. Zwischen hohen Bäumen schwebt sie und nährt sich von den milden Sonnenstrahlen. Ein seltsam anmutender und eigenartig geformter Embryo schwimmt in einer transparenten Fruchtblase über meinem Kopf. Die Grenze zwischen Objekt und Umgebung verschwimmt, sodass es selbst zu einem Stück Natur wird, deren Wachsen wir beobachten können, wenn wir es nur wollen.

Auf dem morschen Baumstamm Platz nehmen und das eigene Herz nach dem kurzen Anstieg durch die Waldwiese pochen hören. Es ist warm und feucht, Nebel steigen nach der Regennacht aus dem Wald empor. Ich habe die riesige Fruchtblase mit dem seltsam geformten Embryo längere Zeit betrachtet, bin um sie herumgegangen, bin oft über die Brombeersträucher und Baumwurzeln gestolpert, habe mich ein wenig vor der sehr weiblichen Anmutung des Kunstwerks verwirren lassen. Es ist in meiner Vorstellung zum Lebewesen mutiert, wie in einem Tagtraum, der Wirklichkeit zu werden droht. Das Sakrosankte des Platzes, an dem wir angesichts der Entstehung des Lebens, der Kreatürlichkeit, der Gedanken und Gefühle in stiller Andacht sitzen, birgt auch grosse Unsicherheit. Über mir das zornig Schreien eines Vogels, der sich an meinen Platz von oben angepirscht hat. Ein Eindringling! Stille, aber nicht ganz. Flugzeuge, Traktoren, PKW und Zuggeräusche beeinträchtigen meine Konzentriertheit auf das Werden und Vergehen des Lebens. Trotzdem gebe ich mich dem heiligen Augenblick hin, während hinter mir, am Ort des Kunstwerke, das Unheimliche ein unbekanntes Leben gebiert. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob hier, nicht bereits der Schrecken auf uns wartet, für alle Zukunft. Die Welt des Menschen wird zwar zwangsläufig untergehen, die Natur sich aber wieder einmal anpassen wie schon so viele Male in dieser Erdgeschichte. Sie lebt in alle Ewigkeit und in unsagbaeren Formen. Zart glitzern Fruchtblase und Embryo im Sonnenschein, aber Hoffnung gebären sie nicht: wenigstens nicht für uns Menschen, eine grausame Rasse geboren aus der Hoffart des aufrechten Ganges.

tinderness: Le mouvement végétatif
Victorine Müller: Le mouvement végétatif, Detailansicht.

Ich frage mich, wie viele Menschen hier an einem Wochenende vorbeiwandern. Erfreut stelle ich fest, dass offenbar Hobbyreiter und Biker diesen Pfad meiden. Auch Profile von Wanderschuhen kann ich auf dem nassen Boden nicht entdecken. Wieviele Interessierte kommen darüber hinaus hierher, um die Bewegung des Lebens zu sehen? Können auch sie die Stille und Verwunschenheit des Ortes in der einen oder anderen Art erfahren? Vorsichtig steige ich den rutschigen Pfad zur oben verlaufenden Forststrasse hinauf. Auf dieser braust ein Traktor vorbei. Der Fahrer hat Kopfhörer aufgesetzt, um von all dem hier nichts erfahren zu müssen. Er weiss weder von dem Kunstwerk, das oben über der Forststrasse aufgehängt ist, noch von der Geburt fremdartigen Lebens unter ihm im feuchten Tal.

Altholzinsel Josafastaal

Post Scriptum: Zu Hause dann, höre ich die Nachrichten von der extremen Hitzewelle in den USA und Kanda und den Überschwemmungen in Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Ich nicke bedrückt, als hätte ich erst jetzt verstanden. Welche Lebensformen werden aus der verbrannten Erde eines Dorfes entstehen oder aus der überschwemmten Lehmgrube in Erftstadt?