
We can’t go back to normal, because normal was the problem.
Graffity, zuerst gesehen in Chile.
Die Vorstellung, dass die Normalität von früher zurückkommen könne, ist naiv: am Beginn der Pandemie wurde das geäussert, vielfach von Politikern, die dabei ebenso blauäugig wie verantwortungsbefreit ihre Wähler beruhigen wollten. Man habe alles im Griff! Das Gegenteil war der Fall. Die Pandemie hat uns im Griff, die Damen und Herren Politiker mit eingeschlossen. Regierungen reagierten auf die Unwägbarkeit einer Pandemie mal besser, mal schlechter. Das Ergebniss des verabreichten Schlafmittels „Normalität“ allerdings verursachte weitere Lockdownwellen. Bald sprach man deshalb nicht von der alten sondern von der Neuen Normalität, ein semantischer Humbug. Man meinte damit, dass bald wieder Normalität einkehren würde, nur halt ein bissel anders, aber nicht zu sehr. Auch das ist falsch. Covid-19 werden wir nie mehr los. Auch andere Pandemien werden kommen. Alles entzieht sich plötzlich dem, was wir bisher für gültig und beruhigend empfunden haben. Auf die Normalität werden wir noch lange warten, wenn wir es nicht schaffen, sie für uns zu schaffen. Doch, wie das Graffity andeutet, war die alte Normalität selbst das Problem: in der Politik, im Umgang mit der Klimakrise, in Wirtschaft und Gesellschaft. Der jahrzehntelange Zerfall der Wohlstandsgesellschaften und die Erosion des Selbstverständnisses vom „Guten Leben“ ist plötzlich deutlich sichtbar geworden: alles ist Anders, wenig gibt mehr Sicherheit.
Politik: Doch die Normalität der alten Zeit war schon vor der Pandemie einem fortgesetzten globalen Ausnahmezustand gewichen. Da muss man gar nicht erst an die Ära Trump denken, die mit der demokratischen Legitimität und politischen Normalität gebrochen und das politische Regelwerk der westlichen Welt ausser Kraft gesetzt hatte. Führer anderer Länder folgten seinem verantwortungslosen Populismus und veranstalteten wie ER ein vordergründig lächerliches, aber gefährliches Theater. Wahrheit, Moral, Demokratie, Politik und Achtung der Menschenrechte erodierten in einem unerhörten Masse. China gibt den Ton auf der weltpolitischen Bühne, die Europäische Union brabbelt behäbig vor sich hin.
Klima: Die Kinder und Eltern von Fridays for Future und Extinction Rebellion machten lange vor dem Ausbruch der Pandemie öffentlichkeitswirksam darauf aufmerksam, dass sich die Welt bereits verändert habe und drohte, in einer Vielzahl von bedenkenlos in Kauf genommenen Klimakatastrophen unterzugehen. Der Sommer 2020 und 2021 gab ihnen recht und der jüngste Bericht des Weltklimarates, zu dem eine Vielzahl von renommierten Klimaforscherinnen ihre Beiträge geliefert hatte, bestätigt es in aller Deutlichkeit. Eine Rückkehr zum Klima der vergangenen Jahre wird nicht mehr möglich sein: im Gegenteil, nichts wird mehr so sein, wie es war. Wir haben uns mit Sicherheit auf „a“-normales Klima einzustellen.
Wirtschaft und Gesellschaft: Auch die Normalität von Arbeit und Wirtschaften haben sich verändert: Homeoffice, Online-Lieferketten von Konsumgütern, eine Abkehr von der Mobilität mit Verbrennungsmotoren, Städte als Metropolen der Hitze; alles bisher als „normal“ Empfundene wird über den Haufen geworfen. Die Welt ist binnen weniger Jahre eine andere geworden und die Veränderungen werden sich in hohem Masse beschleunigen. Die Rückkehr zur Normalität von gestern ist unmöglich geworden, die der Zukunft noch nicht sichtbar. Beruhigend ist das nicht, aber vorwärts müssen wir trotzdem.
Ideologie: Der öffentlichkeitswirksame Diskurs „Normalität“ ist vor allem für Konservative und die Rechte profitabel, für viele Adressaten fatal verführerisch. Das Gute bewahren, dem Neuen in kritischer Distanz und abwartend gegenüberstehen, war immer die Devise der Traditionalisten. Das wird sich aber nicht mehr ausgehen. Heute ist Zögern und Zaudern angesichts der erwarteten klimatologischen Kippeffekte brandgefährlich. Die Geschichte von der rückkehrenden Normalität ist auch deshalb eine grundlegend falsche Erzählung weil sie eine untergegangene Welt vortäuscht. Derartige Phantasien sind entweder der Verleugnung oder der Angst vor unser aller Zukunft geschuldet. Tatsächlich sind Zeiten der grossen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen immer auch Zeiten von Verunsicherung, Angst, Realitätsverweigerung und Mythenbildung. Deshalb auch die Verschwörungstheoretiker und Hsteriker allerorten: sie kompensieren ihre Ängste durch die Projektion derselben auf monströse Verschwörungsnarrative.
Ein interessanter medialer Diskurs: Von Verunsicherung und Angst ist auch in der ersten isländischen Hausproduktion von Netflix, einer achtteilige Serie mit dem Titel Katla viel zu spüren. Sie analysiert die zerbrochene Normalität einer Gruppe von Menschen, die in unmittelbarer Nähe eines vor einem Jahr ausgebrochenen Vulkans wohnen geblieben sind. Sie wohnen im Sperrgebiet und wollen die Zone nicht verlassen. Anders als vielleicht erwartet, ist diese Serie jedoch keine billige Dystopie, wie sie sonst allerorten wie Pilze aus dem derzeit kargen Böden der Filmindustrie schiessen, sondern ein interessanter Diskurs über die Veränderung der Welt.
Wie sich verhalten, wenn die alte Welt nicht mehr besteht? Vieles treibt die Menschen an, die im gesundheitsgefährdenden Ascheregen des Vulkans Katla leben bleiben, hauptsächlich aber der Wunsch, sich die Welt von Früher bewahren zu können. An diese klammern sie sich, die Vergangenheit wird zum schweren Erbe. Fern von Klischees erzählt die Serie auf hintergründige Weise von der tiefen Verunsicherung von Menschen, die sich am Katastrophenort mit einer weiteren erschütternden Entdeckung konfrontiert sehen: der „Wiederkehr“ von Doppelgängern. Diese sind durch das Abschmelzen des Gletschers zum Leben erwacht und tauchen aschebedeckt vor den Augen ihrer Angehörigen und Freunde auf. Die personifizierte Vergangenheit tanzt den Reigen des Untergangs. Längst sind die Doppelgänger als vermisst oder tot erklärt: ihre Erinnerung scheint ausgelöscht, sie können kaum zu den Erklärungsversuchen der Hinterbliebenen beitragen. Das gibt auch dem ZuseherInnen Rätsel auf. Doch interessanter als jeder Erklärungsansatz und jede Entwirrung des Rätsels sind die Reaktionen aller Akteure. Ein blindes Tasten nach Realität, ein verstörtes Sprechen und Zuhören, Rationalität und Esoterik sind dabei Optionen. Ihr Versuch, die Realität von heute mit den Instrumenten und Diskursen des Gestern zu begreifen, sind zum Scheitern verurteilt.
Man merkt es dem Film an, dass er unter dem Eindruck der ersten Wellen der COVID-19 Pandemie gedreht wurde: zu einfühlsam wird hier die Verunsicherung der Menschen dargestellt, zu realistisch die Unerhörtheit einer naturbedingten gesellschaftlichen und emotionalen Zäsur erzählt. Hautnah spürt man, was das Unsagbare zu erzählen weiss und was die neue Realität an Schrecken und Unverständnis verbeitet. Womit wir wieder in der Abnormalität unseres Alltagslebens sind: denn diese gilt es zu bewältigen und nicht zu verleugnen.
Recherche:
- Taz: Unter dem Ascheregen.
- Süddeutsche Zeitung: Besucher aus Asche und Schlamm.
- Frankfurter Rundschau: Trauer und Asche.
- EPD Film: Zurück aus der Asche.
normalität heißt für mich: wieder auf den boden der grundrechte zurückkehren.
und: einseitige berichterstattungen und angstmache sollten nicht zur normalität werden.
unsere gesellschaft war schon vor corona pathologisch. in der krise fallen lediglich die letzten hüllen von anstand und gesundem menschenverstand.
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Was ist schon normal … zum Einen hat der Zustand etwas Beruhigendes. Zum Anderen klebt an ihm der erste Flugrost, den man genauer betrachten sollte, bevor sich der Rost ins Getriebe setzt.
Und was Trump anbelangt – er ist der vorläufige Gipfel einer Entwicklung, die vor allem mit der Tea-Party Bewegung angefangen hat.
Verleumden und ganz laut Lügen verbreiten, bis sie geglaubt werden.
Hass und Misstrauen säen 🤢
Ne ich hör jetzt auf 🕊
Aber vielleicht sind ja ein paar Leute wach geworden…
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Und die Pandemie- und Klimawandelprobleme sind doch seit langem bekannt. Es war nur eine Frage der Zeit. Doch mit Vorsorge lässt sich nun mal kein Geld verdienen.
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Sehr gute Analyse, vor allem auch jene der Glaubwürdigkeit der Politik.
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