
Es ist ein eigenartiger Ort mit dunkler Geschichte, mitten in eine Seenlandschaft gepflanzt, umgeben von borealem Wald und einer Fülle an Gewässern. In der Sprache des Volkes, das die Region seit Jahrhunderten besiedelt, heisst er Árviesjávrrie. 1607 wurde dort zur gewaltsamen Missionierung der Samen eine Kirche gegründet und wenige Jahrzehnte später wurde er zum zentralen Ort der weit verstreut lebenden Urbewohner und schwedischen Kolonialisten des Landes. Diese kamen auf Befehl des Königs aus dem Süden mehrmals jährlich ihrer Kirchenpflicht nach und trieben bei dieser Gelegenheit auch Handel untereinander. Heute erinnert das Freiluftmuseum Kyrkstaden an die Tage der Zusammenkünfte der nomadisierenden Waldsamen. Es wird einmal im Jahr durch eine feierliche Zusammenkunft wieder „bespielt“.
Was dem Touristen an dieser Ortschaft sofort auffällt, sind die vielen Teiche und Seen mitten in und um die Siedlung: Yttersttjärn, Landsvägatjärn, Lille Larstjärn, Odlingstjärn, Nyborgstjärn, Arvidsjaursjön, Prästtjärn, Ollettjärn – um nur einige von ihnen zu nennen.
Will man den Ort mit seinen rund 1000 Einwohnern von oben genauer betrachten, muss man auf einen südlich gelegenen, bewaldeten Hügel. So sitzen wir dann an einer etwas vernachlässigten Feuerstelle am Lillberget, wo sich nicht nur der Sitz eines schwedischen Jägerbataillons befindet, sondern auch ein Aussichts- und Sendeturm. Wir überblicken die Seenlandschaft inmitten der Wohnhäuser, Kommunalbauten und kleinen Industrieansiedlungen. Ein paar wenige Durchzugsstrassen, die von Osten nach Westen verlaufen heissen „Europastrasse“ oder „Silberstrasse“, eine radial im Norden von Arvidsjaur verlaufender Weg ist nach Sten Laestadius benannt, einem Lokalpolitiker und Hotelbesitzer des Ortes. Insgesamt eine Ortschaft in sehr einsamer Lage, von Gott Gottseidank schon lange verlassen, mit nur wenigen Sehenswürdigkeiten – so wie auch viele anderen zentralen Orte im schwedischen Sapmi.
Plötzlich ist sie wieder da, die scheinbar absolute Ruhe, die fast überall herrscht! Überall Wald, Wald, Wald (Rotkiefer, Pappel, Birke, Moos, Beeren), ein weiteres Synonym für die Verlassenheit hier. Eine Ruhe, die einen zusammenzucken lässt, wenn ein Regenschauer auf das Dach des Hauses trommelt, das Holz im Ofen knackt, der Wind an den Fenstern rüttelt, die Wildgänse in der Ferne schnattern oder ein Tier im Wald eigenartige Laute von sich gibt. Keine Idylle freilich, sondern nur eine bedingungslose, gnadenlos existentialistische Situation. Es herrscht zu jeder Zeit eine laute Stille, die in den ersten Tagen der Wiederkehr weh tut, und sich als Rauschen in den Ohren einnistet. Es dauert einige Tage bis man sich daran gewöhnt hat und schliesslich seltsam überrascht erfährt, dass auch die Natur ihre Lautkulisse produziert. Man hat zwar gewusst, dass es sie gibt, hat aber nicht gewusst, wie sie in dieser Deutlichkeit und Reinheit tönt. Und tatsächlich, man muss diese Einsamkeit lieben, um nicht an ihr zu verzagen. Man sollte sich seiner selbst gewiss sein und genügend kennen, um nicht von ihrer Ernsthaftigkeit befallen zu werden. Man darf auch offen genug sein, um sich ein wenig an die unaufgeregten Zeiten der Kindheit zurückzuerinnern, als die Menschheit noch nicht im Lärm der Kraftfahrzeuge, der Lichtpest und der Luftpest ihrer Zentralen verkommen ist und behauptet hat, zivilisiert zu sein. Das Verweilen im Schweigen ist wie Meditation, die man, so man mutig genug ist, auskosten kann, bis man im Rhythmus der Bäume und der Bäche „schwingt“ und sich dabei aufgehoben fühlt. Man möchte dann aus ihr nie mehr erwachen. Dann knackt das Unterholz, man schreckt zusammen und weiss nicht, was der Grund dafür ist.
Ich schreibe diese Zeilen in unserem Haus auf einer Anhöhe 30 im Weiler Tallnäs. Die Vermieterin hat hier seit 65 Jahren gelebt und hat das wunderschöne Grundstück bereits verkauft, um am Beginn des nächsten Jahres zu ihrer Tochter in die Stadt zu ziehen. Das macht mich unvermittelt traurig.
Es regnet heute den ganzen Tag. Die Temperaturen sind auf unter 10 Grad Celsius gesunken. Der Wind peitscht über den See, die Birken und Rotkiefern wiegen sich im Wind. Wenn in Mitteleuropa noch der Sommer wütet, ist es hier bereits tief herbstlich, angenehm kalt und nass. Die Saison ist vorbei, sogar die Kirchen sind nicht mehr zu besichtigen. In der Nacht brennen Lichter in den Fenstern der nahegelegenen Hütten. Ich wundere mich: Warum hängen da diese Lampen hinter den Fensterscheiben, wie als rettende Lebenszeichen für verlorene Seelen?
