
„Kirchgang“ ist ja ein etwas getragenes, behäbiges, und vielleicht auch spiessbürgerliches Wort, das nicht mehr so recht in unsere heutigen Zeiten passen mag. Früher trug man ihn noch vor sich her, rechthaberisch und staatstragend, Gottes Unterstützung sicher und auch jene der Macht und Politik. Heute herrscht statt Gott die Lust und der Vorteil: Gott ist tot und mit ihm der Kirchgang.
Es gibt aber Gegenden in unserer Welt, da wird mit dem Kirchgang noch Fremdenverkehrswerbung gemacht, wenn auch eine, die sich behäbig zurücklehnt und auf ihre Kunden wartet und nicht in marktschreierische Belästigung der Konsumenten verfällt. In Arvidsjaur ist der „Kyrkstaden“ bzw. „Lappenstaden“ so ein Begriff „defensiver Fremdenverkehrswerbung“, ein Ort, über den das örtliche Fremdenverkehrsamt aber nicht so gerne Auskunft geben mag. Mehrere Anfragen von uns, ob denn das jährliche Fest der Samen am „Kyrkstaden“ überhaupt stattfinden werde, wurden nicht beantwortet. Man liess uns dumm zurück, ob aus Absicht, Faulheit oder Nachlässigkeit: das weiss man nicht so genau. Beamte und das Email: das ist eine eigene Geschichte.
Betreiben wir ein wenig Eigenrecherche. Den Begriff „Lappenstaden“ (= Lappenstadt) scheiden wir aus unserem Gebrauch aus, enthält er doch den heute noch immer gebräuchlichen Begriff des „Lappen“, die Bezeichnung des Herrenmenschen für die Ureinwohner des nördlichen Skandinaviens. Die Samen selbst wollen aber nicht so gerne mit dem respektlosen Begriff des „Lappen“ bezeichnet werden. Wir tun es also nicht. Ebenso ist der Begriff „Stad“ (=Stadt) schief, weil er nahelegt, dass es sich um einen Ort handle, an dem Menschen permanent gesiedelt hätten. Doch die dort zusammengekommenen Waldsamen waren Nomaden und siedelten dort nur, wenn sie ihren Tribut an Kirche und Landesherren zollen mussten und Handel trieben, also wenige Tage im Jahr. Den Rest des Tages verschlossen sie die Türen ihrer Holzkoten und gingen ihrer alltäglichen Beschäftigung nach. Wir sehen also schon an der Begrifflichkeit, dass die alte missionarische, zivilisatorische Deutungshoheit der schwedischen Kolonisatoren des 17., 18. und 19. Jahrhunderts bis heute wirksam ist, wenngleich die Samen letztendlich zu lokaler Selbstverwaltung und überregionaler Vertretung (Norwegen, Schweden, Finnland und Russland) gefunden haben. Ein schwacher Trost für die Erstbewohner des Landes. Wir nennen den Ort also Kyrkestad, welcher es im kulturellen Erbe der Samen zu überregionaler Bedeutung gebracht hat. An seinem Eingang befindet sich einige Informationstafeln, die politisch zurückhaltend über das Schicksal dieser temporären Ansiedlung Auskunft geben:

EINZIGARTIGE SAMENSTADT. Die sog. Kirchenstadt von Arvidsjaur ist einzigartig. Hier wurden die typischen gahtie-Koten mit ihrer holzgezimmerten, viereckigen Bauweise und dem pyramidenförmigen Dach bewahrt. In Nordschweden spielte die Kirchenstadt eine wichtige Rolle. Die um die Kirche gruppierten Gebäude dienten den angereisten Samen als Aufenthalts- und Begegnungsort für die wichtigsten Feiertage – Taufe, Trauung und Beerdigung- Hier traf man sich mit Verwandten und Freunden. Die Samenstadt steht heute unter Denkmalschutz; sie ist aber kein Freilichtmuseum, sondern wird weiterhin genutzt. Hier ist die Tradition lebendig!
DIE ERSTE KIRCHE. Die erste urkundliche Erwähnung einer Kapelle in Arvidsjaur geht auf das 16. Jahrhundert zurück. 1606 stand in Arvidsjaur dann die erste Kirche. Im Gebiet der Samen wurden dann noch drei weitere Kirchen errichtet. Dadurch sollten die Samen zum Christentum bekehrt werden, und mit Hilfe der kirchlichen Organisation konnte auch der schwedische Staat seinen Zugriff auf das Gebiet der Samen erweitern. Die Kirchplätze dienten auch als vom Staat beaufsichtigte Märkte; hier wurden Gerichtsverhandlungen abgehalten und Steuern eingetrieben.
Infotafel Kyrkstaden, Arvidsjaur
Die letzte Bemerkung verweist auf den Begriff der Kirchenstädte unter den die ehemaligen Plätze Arvidsjaur oder Jokkmokk fallen, eine Besonderheit in der Geschichte Nordschwedens. Den Kern dieser Städte bildeten Kapellen bzw. Kirchen, die im 17. Jahrhundert in Nordschweden zur Missionierung der dort ansässigen, halbnomadisierenden Samen errichtet wurden. Kriege und Bevölkerungswachstum machte eine wirtschaftliche Erschliessung des Nordens und seine steuertechnische Erfassung erforderlich. Die Lappmark wurde zur Kolonie im eigenen Land. In den beiden sgn. „Lappmarksplakaten“ von 1673 und 1685 wurde Siedlern aus dem Süden Steuerfreiheit und Kriegsdienstbefreiung zugesagt, wenn sie sich zu Zwecken der Viehzucht, Jagd und Fischfang an Stellen niedeliessen, die von den Sami „verlassen wurden“. Das die Ausbeutung dieser Landesteile kolonisatorische Züge trug, macht eine Bemerkung des Reichskanzlers Axel Oxenstierna (1583 – 1654) deutlich, der unverblümt behauptete: „In Norrland haben wir innerhalb unserer Grenzen ein Indien, wenn wir es zu nutzen verstehen.“
Diese „Städte“ waren, wie schon oben erwähnt, aber temporäre Städte, die zu bestimmten Gelegenheiten (Kirchliche Feiertage, Märkte, Steuerabgaben) aufgesucht wurden. Aufgrund der um den Polarkreis herrschenden herrschenden harschen Bedingungen waren feste Behausungen an diesen Versammlungsorten unbedingt notwendig. Dabei gab es auch eine siedlungstechnische Besonderheit. Die Strassen dieser Siedlungen zeigten immer in jene Richtung, aus denen die Siedler kamen: diese konnten Samen, in den Norden zugezogene schwedische Siedler oder Handel treibende Bürger sein. In Norbotten etwa war die dabei die Entfernung der temporären Siedlungen rund 15 bis 20 km von den regulären Wohnorten entfernt. Die Kirchenstädten entsprachen so der regionalen Demographie der sie umgebenden Region.
Die soziale Unterscheidung zwischen Kirche, Handel treibenden Bürgern, schwedischen Bauern und einheimischen Samen waren zumindest im 17. und 18. Jahrhundert auch geographisch eine strikte, wiewohl sie sich in ihren Funktionen aufeinander bezogen. So entstanden etwa in Arvidsjaur in der Kirchenstadt nach dem oben beschriebenen Muster eine von einander geschiedene Bürgerstadt, Bauernstadt und Samenstadt. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass nur die Samenstadt bis heute erhalten geblieben ist, umgeben von den Gebäuden einer schwedischen Kleinstadt modernen Typus.

Doch kommen wir zu unserer Anfrage an das Fremdenverkehrsamt bezüglich des alljährlich stattfindenden Festes der Samen in Arvidsjaur zurück. Tatsächlich fand es auch dieses Jahr statt, der sgn. „Störstämningshelgen“, ein besonderer Festtag mit Gottesdienst, Lasso- Wettkämpfen und einer Verkaufsausstellung von samischem Kunsthandwerk. So spiegelt dieses traditionelle Fest einen bestimmten Stand der Kolonialgeschichte der Samen wider. Seit Jahrhunderten ihrer schamanischen Naturreligion und darauf basierenden Sprache und Kultur beraubt, bewahrt ein Teil der Samen die von den schwedischen Kolonisatoren oktroyierte Lebensform bis heute: die jährliche Zusammenkunft im protestantischen Gottesdienst. Das mag natürlich auch dem Tourismus geschuldet sein, dem darin enthaltenen Exotismus und die historischen Tatsachen verfälschenden Lokalkolorit. Aber entgegenkommen tut diese Art der Geschichtsklitterung der Ideologie der schwedischen Mehrheitsgesellschaft noch immer.
Recherche
- Noel D. Broadbent. Lapps and Labyrinths. Salami Prehistory, Colonialization and Cultural Resilience. 2010
- Blog Geschichte Schwedens: Die samische Kirchstadt Arvidsjaur.
- Irmtraud Feldbinder: Lappland Reisehandbuch. 1991