Sauna und Hütte, Jokkmokk, Sapmi

Einfachheit, Einfachheit, Einfachheit! Ich sage dir: Gib dich mit zwei oder drei Angelegenheiten ab, aber nicht mit hundert oder tausend! Rechne nicht mit einer Million, sondern mit einem halben Dutzend und führe Buch auf deinem Fingernagel!

Henri David Thoreau: Walden oder Über Leben in den Wäldern

Von der Stille in Sapmi war hier bereits die Rede, von der Neugier des Touristen und der Selbstvermarktung seiner Ureinwohner: es wird Zeit über das einfache Leben, das wir dort zu führen, zu sprechen. Wir sind in unserem Häuschen in Jokkmokk angekommen und das ist hier der rechte Platz dafür. Das Schreiben darüber wird, das ist gewiss, eine Gradwanderung zwischen neoromantischen Klischees, konservativen Phantasien und der Beschreibung einer Realität, die tief empfunden aber auch wahr ist. Sei’s drum!

Am Anfang steht die Erinnerung an meine Urgrossmutter aus Morawska Ostrava, einem kleinen Dorf in Mähren. Sie war vor der Jahrhundertwende nach Wien gekommen, wie so viele ungelernte Arbeiterinnen aus der Peripherie der österreichisch-ungarischen Monarchie. Selbst eine Bäuerin hatte sie am Rande der Stadt ein Grundstück mit einem kleinen, unterkellerten Holzhaus gekauft: über die Herkunft der dafür benötigten finanziellen Mittel weiss ich nichts Genaueres. Die Mutter behauptete immer, es wäre ihr gesamtes Erspartes gewesen. Von einem Ehemann ist nichts bekannt. Tatsache ist aber, dass ich im „Garten“ meiner Urgrossmutter als Bub oft den gesamten Sommer verbrachte, in der Abgeschiedenheit dieses riesigen Grundstücks mit Obstbäumen, Gemüsegarten und einem dem Haus angeschlossenen Hühnerstall. Das Grundstück war kein Wochenendvergnügen, wie man heute vielleicht meinen könnte, sondern ein Mini-Bauernhof und entsprach einem richtigen Kalkül. Die dort produzierten Lebensmittel würden notwendigerweise im Haushalt Verwendung finden. Und tatsächlich gaben zwei Weltkriege und die damit verbundenen Lebensmittelkrisen und Hungersnöte diesem Kalkül nur allzu recht. Die ganze Familie profitierte von den Früchten dieses Grundstücks mehr als oft, auch in der Zeit des beginnenden Wirtschaftswunders in Österreich.

Die Sommer in Urgrossmutters Garten waren mein Einstieg ins „einfache Leben“: ohne verfügbaren Strom, ohne fliessendes Wasser aber begleitet von der zupackenden und selbstsicheren Art der alten Frau aus Moravska Ostrava, die stets ein Kopftuch und eine Hausschürze trug und die Baumnüsse ihres Gartens mit einer Hand aufknacken konnte. Der Geruch der Petroleumlampe am Abend, das eiskalte Brunnenwasser mit dem wir uns meist wuschen, das händische Pumpen des Wassers, das Schleppen der Wasserkübel, um den Gemüse- und Blumengarten zu giessen – das alles bestimmte die Routinen des Tages. Im Herbst waren die Früchte von den Bäumen und Sträuchern zu pflücken: Äpfel, Birnen, Ringlotten, Zwetschken, Nüsse, Stachelbeeren, Ribiseln. Als Belohnung an einem heissen Sommertag gab es selbstgemachte Limonade: mit Zucker zerquetschte Stachelbeeren („Ogrosln“), aufgegossen mit Brunnenwasser. Für die Erwachsenen der selbstgemachte Most, der in Zweiliterflaschen in der Sonne vor sich hingor und deren zuckerschaumüberzogenen Flaschenköpfe von den Bienen, Hummeln und Wespen nur allzu gerne frequentiert wurden. Gleich neben dem Schuppen mit seiner Handvoll Hühnern und einigen Kaninchen war das Plumpsklo (die „Latrine“), vor der mir zwar insgeheim graute, die ich aber trotzdem mit der schreckerfüllten Neugier eines Fünfjährigen benutzte. Das alles brannte sich in meinem Gedächtnis fest: das einfache und wohl auch beschwerliche Leben vor 60 Jahren „off the grid“: die Nähe zur Natur, die Ungekünsteltheit meiner Urgrossmutter, deren Vorname Apollonia war, und die Geschichten, die sie mir erzählte, sowie die Lieder in tschechischer Sprache, die sie mir vorsang. Oft sass ich in dem Zwetschkenbaum und sah durch seine dichte Laubkrone auf die Welt, dachte an nichts. Die Welt bestand aus meiner Urgrossmutter, der kleinen Hütte mit dem Nussbaum und dem Gartentisch und endete am mit Liguster dicht bewachsenen Zaun. Das Universum war übersichtlich, unveränderlich und einfach zu begreifen. Nichts konnte es stören. Ich hatte erstmals erfahren, was Thoreau als die Wirklichkeit bezeichnet: das Leben in seiner vielleicht ursprünglichsten Form bot sich mir dar. Er schreibt:

Obwohl der Blick vor meiner Tür aus noch beschränkter war, fühlte ich mich keineswegs bedrückt und eingeengt. Es gab Weideland genug für meine Phantasie.

Henri David Thoreau: Walden oder Über Leben in den Wäldern.

Die Rückkehr zum einfachen Leben ist im 21. Jahrhundert eine recht ambivalente Angelegenheit. In der Überdrehtheit des 21. Jahrhunderts mit seiner sträflichen Achtlosigkeit gegenüber seinen natürlichen und mentalen Ressourcen und der Verwöhntheit und Verzogenheit seiner rechthaberischen Bürgerinnen, wird das Einfache oft mit dem Primitiven verwechselt und im Grunde recht zwiespältig betrachtet. Was die einen als „Rückkehr in die Steinzeit“ verteufeln, verklären die anderen als Rückkehr zur esoterisch verbrämten Religion. Warum, frage ich mich, müssen es immer diese Extreme und Hitzewellen sein, in denen wir denken und leben, warum sind die Schattierungen der Wirklichkeit nicht viel attraktiver beim Denken? Warum verteidigen wir immer die Routinen unseres Alltags, unter denen wir doch leiden und an denen wir krank geworden sind?

Und doch: Es scheint, das manche zu einem einfachen, natürlicheren und weniger dekadentem Leben streben; gerade deshalb wohl, weil wir uns zu sehr den Parametern der profitorientierten Wirtschaft hingegeben haben, die uns nichts bringt als die Gier nach mehr. Es ist kein Zufall, dass in letzter Zeit gerade die Schriften von Henri David Thoreau wieder einen breiten Leserkreis und meist enthusiastische Beurteilung finden. Manches, was sich dort an Zivilisationskritik findet, ist immerhin schon 170 Jahre alt, erscheint aber wie neu gedacht. Es ist wohl die ewige Zivilisationskritik der Menschheit, die wir dort finden und die wohl jedes Jahrhundert auf den Lippen führt, meist in anderem Gewand. Doch Thoreaus Kritik, die sich an manchen Stellen besserwisserisch, verschroben oder einfach nur anachronistisch liest, lässt sich mitunter treffend übertragen auf die Gegenwart. Was Thoreau dabei vor allem auszeichnet, ist das Fehlen von Larmoyanz und Misanthropie und den diktatorischen Impetus eines Gebildeten, der seine Besserwisserei über andere Menschen stülpt. Ehrenhaft sein Selbstversuch, ein einfaches Leben zu führen. Als Labor dazu dient ihm der Bau einer Hütte auf dem Grundstück seiner Familie („Walden“), wo er arbeitend, faulenzend und reflektierend zwei Jahre und zwei Monate verbringt:

Replica von Thoreaus Hütte am Walden See, Wikimedia Commons By Britannica – britannica.com, CC BY-SA 4.0

Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so herzhaft und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, aufs Haupt geschlagen würde.

Henri David Thoreau: Walden oder Über Leben in den Wäldern

Thoreau habe ich wieder zu lesen begonnen, sei wir uns seit wenigen Tagen in unsere Hütte in Jokkmokk befinden. Auch dort ein Ort, der nicht „aus“ der Welt ist, aber abgeschieden genug, um das zu bieten, was Thoreau folgendermassen beschreibt:

Ich entdeckte, dass mein Haus tatsächlich an solch einer entlegenen, doch ewig jungen, jungfräulichen Stätte des Universums. Wenn es der Mühe wert war, sich in der Nähe der Plejaden (…) niederzlassen, dann war ich wirklich dort, oder wenigstens ebenso weit wie sie von jenem Leben entfernt, die ich hinter mir gelassen hatte.

Henri David Thoreau: Walden oder Über Leben in den Wäldern

Diese Hütte in Sapmi ist 60 Jahre nach den Sommern auf dem Grundstück meiner Urgrossmutter zu unserem Hort des einfachen Lebens geworden. Wenigstens einige Wochen im jahr verbringen wir unser Leben in den Kiefern- und Birkenwäldern Wäldern nördlich des Polarkreises, in der Einsamkeit, Einfachheit und mit den paradiesischen Beschwernissen einfachen Lebens, inmitten der Schönheit und Geradlinigkeit der uns umgebenden Natur. Er ist ein wenig wie damals in meiner Kindheit: ein zugegeben naives aber tiefes Glück umfängt uns. Zwar profitieren wir Elektrizität, doch besitzen wir kein fliessendes Wasser. Das müssen wir vom See holen, der wie Thoreaus Walden Pond wenige Meter den Hügel hinab vor unserer Haustür liegt. Kübel von Wasser tragen sich schwer den Hügel hinauf. Am Seeufer eine kleine Sauna, die einen recht praktischen Zweck besitzt: es ist unser einziges Badezimmer. Sowohl Sauna wie auch unsere kleine Hütte wollen in der Rauheit des Klimas gut beheizt werden: das erfordert Brennholz, das erst besorgt werden muss, oft auch durch den Einsatz von Axt und Säge. Einige Kilometer sind es zur nächstgelegenen Ortschaft und der wöchentliche Einkauf muss wohl überlegt sein. Und ja, es gibt es auch hier, das Plumpsklo, welches bei Sturm und Regen und Kälte verflucht und doch wegen seiner stillen Bescheidenheit geliebt wird. Keine Überdrehtheit, kein störendes Licht oder Geräusch rings um uns herum. Feuer zu machen für die warme Mahlzeit draussen im Wald rings um uns herum wird zur alltäglichen Routine; Kälte, Mücken, Wind und Sonne sind dabei unsere ständigen Begleiter. Der Tisch am Fenster lädt zum Träumen ein, wie damals das Sitzen im Zwetschkenbaum, als die Realität des Draussen die Realität des Innenlebens noch nicht verdrängen konnte. Und beim Genuss des Bades in der Sauna werden Erinnerungen wach, an das finnische Nationalepos, die Kalewala, das sind Geschichten von Elias Lönnrot, die im 19. Jahrhundert zusammengetragen wurden; etwa jene vom Schmid Ilmarinen:

Ich habe dir die Sauna geheizt, das Dampfbad bereitet, Birkenbüschel geschmeidig gemacht, Liebesbüschel gebunden. Geh jetzt, Bruder, baden, nimm Wasser nach Belieben, wasch deinen Kopf flachsweiss, deine Augen schneeweiss. Da ging Schmid Ilmarinen, der alte Meister ins Bad, er badete lang und ausgiebig, bis seine Augen klar waren, die Brauen sauber strahlten, bis der Hals wie ein Hühnerei, der Körper weiss schimmerte. Er war nicht wiederzuerkennen, als er aus der Sauna kam, hell leuchtete sein Antlitz, rot schimmerten die Wangen.

Elias Lönnrot: Kalewala

Sonnenuntergang. Jokkmokk, Sapmi.

Das Leben ist einfach, es fliesst dahin. Ob wir nun da sind oder nicht, die Natur nimmt ihren Lauf und lässt uns zittern und staunen vor ihrem Anspruch auf Ewigkeit. Ich glaube zu verstehen, was uns Thoreau vermitteln wollte: dass die Wirklichkeit ein Platz ist, welcher einsam, still und einfach sein muss, und voll von Natur.

Recherche:

  • David Henri Thoreau: Walden oder Das Leben in den Wäldern. 1845
  • Elias Lönnrot: Kalewala. 1835 f.