
Die Lektüre von Thoreau weckt zusammen mit den prächtigen herbstlichen Preiselbeeren- und Heidelbeerwiesen in den Wäldern rund um Jokkmokk einige Erinnerungen an meine Kindheit. Die jährliche Sommerfrische in der Nähe von Wien, die ich als Kind mit meiner Familie in sonnendurchfluteter Freiheit und regnerischer Beschränktheit genossen habe, waren geprägt von der Sammelwut in der Familie: Eierschwammerl und Steinpilze, die entweder für zuhause getrocknet wurden oder auf einem kleinen Porzellankocher im Pensionszimmer gebraten und in einer Mischung aus Butter, Petersilie, Gries und Ei zubereitet wurden (damit sie mehr „hergaben“); aber auch Beeren, die Hände voll in den Mund gesteckt oder mit Rahm und Zucker auf dem Bettrand sitzend unter der wohlwollenden Aufsicht der Mutter gegessen wurden. Von diesen Essgelagen sollte unsere Zimmerwirtin nichts wissen, denn Kochen auf dem Zimmer war streng verboten! Mönichkirchen, mon amour!
Ein Universum wundervoller Gerüche und Geschmacks. Diese Welt gibt es heute kaum mehr. Das mag mit dem vergangenen Zauber der Kindheit zusammenhängen; mit den heute fast nur mehr erhältlichen Zuchtbeeren, die riesengross und charakterlos sind; mit den langen Transportwegen etwa aus Schweden ud dem Baltikum; mit dem vollkommenen Fehlen der essbaren Pilze des Waldes, die der Sammelwut der Städter zum Opfer gefallen sind: wenigstens in der engeren oder weiteren Umgebung Wiens. Hier, in „meinem Walden“ in Jokkmokk ist noch alles in paradiesischer Menge und Qualität vorhanden. Ich schwelge in Kindheitserinnerungen. So muss ein Sommer sein. Blaue Hände, nasse Kiefernnadeln und Blätter, die daran hängen bleiben, nach Rauch und Harz duftende Kleidung. Der Duft des Waldes mit jenen seiner Früchte! Ein dunkle Gedanke drängt sich auf: Wer hat uns die Früchte des Waldes verdorben und wann genau ist das passiert? Oder waren die Diebe wir selbst in der Selbstvergessenheit unseres mittlerweile erschütterten Fortschrittsglaubens?
Dann habe ich gestern abends noch die beiden Textstellen bei Thoreau gefunden, die damals wie heute von unbestreitbarer Gültigkeit sind und die ich den Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten will: als Reminiszenz an die naiven Zeiten mit der Natur, in der diese noch gut zu uns war und voll von Reichtum und Sinnlichkeit.
Thoreau über die Preiselbeere:
Dort bewunderte ich auch, ohne sie zu pflücken, die Preiselbeeren, den roten Perlschmuck des Wiesengrases, die kleinen Wachsjuwelen, die der Farmer mit hässlichem Rechen abreisst, wobei er die lieblichen Wiesen zerzaust. Er misst diesen, den grünen Wiesen entrissenen Raub gleichgültig nach Scheffeln und barer Münze, und schickt die Beeren nach Boston oder New York zum Verkauf. Dort werden sie gepresst und gequetscht, um den Geschmack der dortigen Naturliebhaber zu befriedigen. So reissen Schlächter den Büffeln nur die Zunge heraus und lassen im übrigen diese wilden Pflanzen der Prärien elend zugrunde gehen.
Henri David Thoreau: Walden oder Das Leben in den Wäldern
Thoreau über die Heidelbeere:
Wer Früchte kauft oder sie zum Verkaufe grosszieht, weiss nicht, wie hold sie duften. Es gibt nur einen Weg, sich an ihrem Aroma zu erfreuen, und die wenigsten benutzen diesen Weg. Willst du wissen, wie Heidelbeeren duften, so frage den Kuhhirten oder das Rebhuhn. Wenn man glaubt, dass derjenige, der nie Heidelbeeren pflückte, weiss, wie sie schmecken, so ist das ein grosser Irrtum. Nach Boston ist noch nie eine Heidelbeere gekommen. Dort wuchsen sie vor langer, langer Zeit auf den Hügeln, und seitdem kennt man sie nicht mehr. Im Wagen, der sie zu Markte fährt, erstickt der Duft: der ambrosische, spezifische Charakter der Frucht geht zugrunde. Hernach ist sie nichts weiter als Futter. Solange die ewige Gerechtigkeit herrscht, kann keine einzige, unschuldige Heidelbeere von den Hügeln des Landes in die Stadt gebracht werden.
Henri David Thoreau: Walden oder Das Leben in den Wäldern
