Der Wasserfall Harsprangsfallet im 19. Jh. vor dem Bau des Kraftwerks

Wieder fühle ich mich an Thoreau erinnert, als ich die Monstrosität der Kraftwerke in der Gemeinde Jokkmokk sehe. In seinem Häuschen am Walden Pond sitzend, hatte jener nicht nur Zeit über die Fehlentwicklungen in der amerikanischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts nachzudenken, sondern auch über die Bedrohungen seiner Welt und des von ihm so euphorisch geliebten Walden Sees. Dabei wird ihm die an seinem Grundstück vorbeiführende Eisenbahn zum Symbol des verderblichen Fortschritts. Ein neuartiger und ungewohnter Feind, der nur Spekulation, Profitgier und Naturverwüstung an die Ufern seines Experiments spülte. Seine Idylle war bedroht.

„Dieses teuflische , eiserne Pferd, dessen ohrenzerreissendes Wiehern durch den ganzen Stadtbezirk gehört wird, hat die Boilingquelle mit seinen Hufen getrübt und alle Wälder an Waldes Rand aufgefressen! Dieses trojanische Pferd mit tausend Menschen in seinem Bauch, das geldgierige Griechen herbeischleppten!“

Henri David Thoreau: Walden oder Das Leben in den Wäldern.

Lange habe ich darüber nachgedacht, was denn hier in Jokkmokk, mit der von Thoreau erlebten Bedrohung durch die Eisenbahn gleichzusetzen wäre. Denn Bedrohung scheint es wohl zu allen Zeiten und überall zu geben: die Bedrohung der verkommenen Zivilisation durch den hemmungslos gierigen Fortschritt . Die Zerstörung eines erlebten und auch imaginierten Paradieses ist wohl eine ständige Erfahrung, solange es den Menschen und seine Geschichte gibt, ein quasi kontinuierlich-destruktiver Prozess. Dieser ist wohl erst dann zu Ende, wenn alles zerstört ist, was den Menschen als begehrenswert erscheint. Wir stehen kurz davor, nun auch unleugenbar wissenschaftlich nachgewiesen.

Was also bedroht das Paradies in Jokkmokk? Die Strassen, die alljährlich im Sommer unzählige Touristen mit ihren protzigen Camping Caravans und forschem Anspruch („Mein Geld bestimmt die Musik, immer noch!“) ins Land spülen? Die Hubschrauberflüge für bemittelte Fischer, die in die Wildnis um Kvikkjokk angeboten werden? Das Internet, welches die Hyperaktivität der Welt in die letzten Reservate der Natur spült und jede Einsamkeit zerstört? Die Waldwirtschaft, die weite Flächen in der Gemeinde Jokkmokk gerodet hat? Aber das sind alles harmlose Zumutungen im Vergleich zu dem, was der schwedische Staat einst angeordnet hatte, ohne den demokratischen Diskurs mit der betroffenen Bevölkerung zu führen. Hier heisst der wahre Feind „Vattenfall“: er hat die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen bereits ohne Skrupel vollzogen. Was die staatliche Energiegesellschaft als Morgengabe für eine nimmersatte Industriegesellschaft per staatlichem Dekret vollzog, war nichts anderes als die Zerstörung eines Teils Schwedens.

Am Beginn dieses Prozesses stand der Entschluss Schwedens, die scheinbar unerschöpflichen Wasserkraft-Ressourcen des Nordens in einer gewaltigen Kraftanstrengung abzuschöpfen. Innerhalb weniger Jahrzehnte (von 1950 bis 1980) erbaute die staatliche Betreibergesellschaft entlang des einst wildromantischen Flusses Luleälv ihre Wasserkraftanlagen, Industriebauten von monströsem Ausmass. Das schwedische Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit hing nicht unwesentlich von der Nutzung dieser Wasserkraftreserven ab. Ein weit angesehenes Modell des Sozialstaats begleitete den Raubbau: auch davon ist in Schweden nur mehr wenig übrig geblieben.

Schon vor dreissig Jahren schreibt Irmtraud Feldbinder in ihrem heute leider vergriffenen, aber immer noch sehr lesenswerten „Lappland“-Reiseführer:

„Allein die Produktionsleistung des Luleälv mit seinen 15 Kraftwerken entspricht mehr als einem Viertel gesamten Stromerzeugung aus Wasserkraft. Die Folgen bleiben Lappland-Reisenden allerdings kaum verborgen: riesige Stauseen anstelle gewundener Flussläufe, Staudämme anstelle von Stromschnellen und Wasserfällen, öde und erodierte Strände bei Niedrigwasser, breite Schneisen im Wald für die Hochspannungsleitungen, von denen die längste über mehr als 1000 km nach Süden führt.“

Irmtraud Feldbinder: Lappland.
Trockene Restwasserstrecke am Harsprangsfallet, im Hintergrund die Staumauer

Wer also von Jokkmokk Richtung Norden nach Porjus fährt und an den jeweiligen Staumauern (Akkats, Messaure, Porjus) mit seinen Umspannwerken und monströsen Hochspannungsleitungen vorbeifährt, der mag erahnen, welchen ökologischen Preis die Schweden für den industriellen Boom der Nachkriegszeit bezahlen mussten und welchen wirtschaftlichen und kulturellen Schaden die Samen der Region erlitten. Denn der Schaden, den die Region für den Energiehunger Schwedens zu zahlen hatte, ist nicht nur in optischer und hydrologischer. Das Versprechen, dass der Kraftwerksbau die Wirtschaft der Region beleben könnte, war zudem ein leeres. Zwar war mit der Errichtung der Kraftwerke die kurzfristige Schaffung von Arbeitsplätzen verbunden, doch werden heute die Anlagen schon lange ferngewartet und lediglich kleine Arbeitsgruppen sind für die Überwachung und Reparaturen notwendig. Der Profit fliesst aus der Region ab und kommt der Bevölkerung der Region Norrland kaum zugute. Die ehemaligen Weidegebiete der Rentiere und die Fischerei entlang der betroffenen Flüsse wurde stark beeinträchtigt. Der staatliche Energiekonzern Vattenfall hat aber längst seine ökonomische Schuld an der Entwicklung der Region als erledigt erachtet und sich mit seiner Technologie in profitable Entwicklungsländer verabschiedet.

Übrig bleiben Lippenbekenntnisse, Vertröstungen und eine Spur der Zerstörung, die sich durchs Land zieht: hier und dort und überall. Der Hunger nach mehr scheint ungebrochen: mehr, mehr, mehr, heisst es, Greenwashing inklusive.