Informationstafel in Messaure

Es ist schon merkwürdig und stimmt wehmütig. Wer die beiden „Ortschaften“ Harspranget oder Messaure im Norden Schwedens besucht, der wird nicht nur von den riesigen Kraftwerksbauten negativ berührt sein, sondern findet auch zwei Geisterstädte vor, in denen (fast) nur Strassenschilder darauf hinweisen, dass hier einmal Kleinstädte existiert haben. Sie sind nun zur Gänze verschwunden und von der Natur nahezu verschluckt worden. Das stimmt ermutigend und sentimental zugleich. Denn wenn wir auch das Recht der Natur auf die Eroberung einst „verlorenen“ Bodens begrüssen, so sind immer auch Menschenleben, ihre Geschichte und Schicksale mit der Entstehung von „Lost Places“ verbunden. Das ist insbesondere dann tragisch, wenn der Verlust ihres Wohnorts von Dritten erzwungen wurde. Das aber war in beiden Orten der Fall. Sie (und weitere Städte) wurden in der Absicht gegründet, dass sie auch wieder verschwinden sollten.

Diese temporären Städte folgten einem genauen wirtschaftlichen Kalkül. In einer derart dünnbesiegelten Gegend war es nicht nur schwierig, geeignete Arbeiter für den Kraftwerksbau zu finden, sondern es war auch sehr teuer, sie über lange Strecken zu ihrem Arbeitsplatz transportieren zu lassen. Die staatliche Energiegesellschaft Vattenfall entschloss sich daher, u.a. an den Kraftwerks-Standorten Harspranget und Messaure temporäre „Arbeitsstädte“ zu gründen, die man nach dem Ende der Mission, also nach Fertigstellung bzw. Inbetriebnahme der Kraftwerke wieder schliessen wollte. Aufgrund der Vereinbarung mit dem staatlichen Domänverket war man gezwungen, das Gebiet, in dem diese Siedlungen angelegt wurden, zu räumen und wieder in ihren „ursprünglichen“ Zustand zurückzuführen. Das schloss auch Baumpflanzungen mit ein. Das Wohnrecht der Arbeiter war noch dazu an einen laufenden Arbeitsvertrag mit Vattenfall gebunden. Verliess man den Arbeitsplatz freiwillig oder auch Kündigung, verlor man auch das Wohnrecht vor Ort. Das war allen Arbeitern und Angestellten, die an diesen Orten wohnten klar, wiewohl die dort verbrachte Lebenszeit naturgemäss gegen die Rationalität ihrer ursprüngliche eingegangenen Verpflichtungen arbeitete.

Nur die Wohnbauten des Kraftwerk Porjus (die Kleinstadt Porjus) sind aus dieser Zeit erhalten geblieben, denn hier befand sich die Zentrale des Projekts. Wer mag, kann dort dem Mythos der Elektrizität und des Wirtschaftswachstums bis heute nachhängen. Wasserkraft: Wohlstand und Wachstum für Alle! Das war damals die Devise, die heute schon brüchig geworden ist. In der Sommerzeit ist in Porjus ein Kraftwerksmuseum geöffnet und ein überdimensioniertes Steinobjekt mit Namen „Kraft“ erinnert an den Heros der Bauten entlang des Luleälven. Als Österreicher fühle ich mich an den Mythos Kaprun erinnert: ein Kraftwerk in den Hohen Tauern, das den „Wiederaufbau“ in Österreich nach dem Desaster des mitverschuldeten Zweiten Weltkriegs symbolisierte. Schulstoff und Identitätsbildung des Österreichers inklusive. Das Denkmal Kraft in Porjus wurde nach Fertigstellung der Kraftwerke am Luleälv errichtet. In der samischen Bevölkerung wird es jedoch „Grabstein“ genannt, nicht nur wegen seiner Form sondern auch wegen der Folgen, die die Kraftwerksbauten für die Entwicklung des Landstrichs und seiner einheimischen Bevölkerung hatte. Mittlerweile werden derart gigantomanische Kraftwerke in Schweden nicht mehr gebaut. Ein anderes „Bauwerk“ kam erst in den letzten Jahren dazu, eine Freizeitanlage, die mir viel typischer für die Widersprüchlichkeit der Stadt erscheint, in der bis heute vorwiegend Angestellte von Vattenfall wohnen: der Golfplatz. In einer unüberbietbaren Skurrillität, die zur Schau gestellter Wohlstand wohl immer besitzt, ziehen sich hübsch geordnet anzusehenden, aber ökologisch fragwürdigen Golfbahnen zwischen den Kraftwerksanlagen, Dämmen, Steinabbrüchen, Transformatorenstrecken, Hochspannungsleitungen und der Europastrasse 45 dahin, sogar eine kleine moderne Fussgängerbrücke wurde über das Areal gebaut. Darunter spielen fröhliche Menschen vergnügt ihr Spiel vor der Kulisse des ökologischen und menschlichen Desaster in der Region. Nichts ist passiert!

Familie in Messaure vor provisorischem Wohncontainer 1958

Das Schicksal zweier anderer Orte am Lulälven ist da schon weniger heroisch und kaum optimistisch zu beurteilen. Messaure und Harspranget sind verlorene Geisterstädte, die bis an ihre Grundfesten zerstört, das heisst sie sind systematisch zum Verschwinden gebracht wurden. Die nicht unterkellerten Wohn- und Verwaltungsgebäude wurden entweder komplett abgebaut oder auf Lastwägen in die nahegelegenen Städte Jokkmokk oder Vuollerim verbracht, wo sich die Familien auf Gemeindegebiet neu ansiedelten. Das ging nicht immer ohne sozialen Widerstand ab, denn die Arbeiter, die oft mit ihren Familien bis zu 20 Jähren diese temporären Städten verbracht hatten, zeigten nur wenig Lust, den Ort, an dem sie ihre sozialen Bindungen aufgebaut hatten, zu verlassen. Gross berichteten damals die Zeitungen darüber und beschworen etwa den „Messaurischen Spirit“ oder den „Letzten Atem in Messaure“. Eine Lösung konnte für die ehemaligen Arbeiter und Angestellten jedoch nicht jedoch nicht gefunden werden; der Knecht hatte seine Schuldigkeit getan, er durfte gehen: mit ein wenig Geld in den Taschen zwar, aber ohne Heimatrecht. 1980 waren auch die letzten Bewohner aus dem Ort verschwunden.

Nicht mehr als Erinnerungstafeln, ein paar alte Schwarz-Weiss Fotografien und verlotterte Picknickbänkchen aus Beton zieren heute das ehemalige Ortszentrum von Messaure. Holzschilder deuten an, wo sich die einzelnen Strassenzüge der Siedlung befanden hatten: auf stillen Waldstrassen darf man heute noch das Areal der ehemaligen Siedlung durchmessen. Es ist einsam geworden an den einstigen Stätten der Betriebsamkeit: nur die stummen Zeugen der Kraftwerke verunstalten weiterhin einen Grossteil des riesigen Areals in Nordosten, das dem Energiehunger des Landes gewidmet ist. Die Geschichten jener Orte und ihrer BewohnerInnen zu erzählen, stünde der Region trotzdem gut an. Denn trotz des Pioniergeistes der Grosselterngeneration haben ihre Enkel und die zuständigen Verwaltungen das Gedenken an diese Orte verlottern lassen. Die Gedenktafeln vor Ort sind verlottert und die Grabsteine für die beim Bau der Kraftwerke ums Leben gekommenen Arbeiter liegen einsam in der Natur, wenig gepflegt und Zeugen vergessener Geschichte. Wann werden auch sie überwachsen und vergessen sein? Die entsprechende Website sieht jedenfalls schon sehr danach aus, dass auch sie einmal in den Tiefen des Internet verschwunden sein wird.

Ein von der Europäischen Union finanziertes Projekt versucht deshalb am Luleälven so etwas wie Erinnerungskultur zu etablieren: Veku Vaku heisst es und hat zum Ziel, das Kulturelle Erbe, das die Kraftwerke am Luleälven hervorgebracht hat, in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei geht es um ein gemeinsames Bewusstsein in einem Raum zu leben, der überwiegend von den Grosskraftwerken geprägt wurde, auch um so etwas wie gemeinsame Identität. Ob dabei auch Kritik laut werden darf am Handling der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Situation der damals betroffenen einheimischen Bevölkerung und der zugezogenen Bauarbeiter bleibt abzuwarten. Ich persönlich hoffe, dass kein beschönigender Golfplatz daraus wird. Das bleibt abzuwarten: bis jetzt ist die Webpage zwar online, aber kaum befüllt.

Recherche:

  • Jorge Maria Abad Martinez: Temporary settlements. Nomadism in the contemporary age. 2019.
  • The Veku Vaku projekt shines a light on the hdropower plants along the rives Ule älv and Lule älv and their towns as a cultural heritage and multifaceted ressource.
  • Homepage: „Willkommen in Messaure“

Gedenkstein Messaure