
Wir alle kennen das: wir sitzen bei einem Telefongespräch, in dem wir mit langatmigen Ausführungen des „Gegenübers“ konfrontiert sind, die schlicht und ergreifend nicht zu stoppen sind. In unserer Verzweiflung, die kommenden Minuten überstehen zu müssen, malen wir auf den Schreibblock eine Fülle von Mustern, Linien, ja Figuren, die unsere Langweile begleiten. Das einseitige Gespräch bekommt fast etwas Medidatives dabei, zumindest wird es etwas erträglicher. Was wir dann nach einigen Tagen wieder vorfinden, ist etwas, das wir mit Nachsicht aber auch Verwunderung als unser „Gekritzel“ erkennen. Es hat uns über die Klippen des Gespräches gebracht – bis es endlich zu Ende gebracht war. Im Englischen wird solch ein Gekritzel als „doodle“ bzw. „scribble“ genannt, wobei wir schon mitten im Thema sind: beim „Zentangeln“, das sich vornehm von diesem abzuheben trachtet.
Doch vorerst noch eine kleine Entschuldigung für die Schreibfaulheit auf diesem Blog in den letzten Tagen. Sie war meinen Bemühungen ums Zeichnen geschuldet, die sich derzeit am doch recht klugen Marketingtrick eines Paares aus Massechusets, USA gespiesst hat. Letztere, nämlich Maria Thomas und Rick Roberts haben das absichtslose Kritzeln, das wir doch alle kennen, fast schon zur Kunstform gebracht, zumindest aber eine bestimmte Methodik entwickelt. Und in einem typisch us-amerikanischen Gestus von Begeisterungsfähigkeit, gepaart mit hochaufgeladener Bedeutsamkeit und zutiefst irdischem Geschäftssinn hat das Märchen von der jedermann zugänglichen Kreativität folgendermassen begonnen:
Some time later, on a quiet Saturday afternoon in the fall of 2003, Rick interrupted Maria in her studio as she added patterns to the background of a large gilded letter. Rick’s sudden interruption caused her to notice what she was experiencing just before he interrupted her. Maria described feelings of selflessness, timelessness, effortlessness and a rich immersion in what she was doing – all classic aspects of a flow state. Rick, who had practiced meditation for many years, said, “You’re describing meditation.”
Zentangle: How did it start?
Man nehme ein etwa bierdeckelgrosses, hochwertiges Zeichenpapier, einen dünnen Fineliner und einen Bleistift und verbinde sein Tun mit einem ritualisierten Anspruch an die eigene Konzentriertheit, Achtsamkeit und Gelassenheit („Zen“) und dem Zeichnen von sich immer wiederholenden Linien von verschiedener Form und Grösse („Tangle“). So produzieren wir unser tägliches „Zentangel“ und werden dabei von einer Methodik begleitet, die ihre festgeschriebenen Regeln, gleichzeitig aber auch ihr Copyright, ihr Logo (ein rotes Rechteck) und ihr Marketing besitzt. Verkauft werden dazu Bücher, Pakete mit Zeichenbedarf, Kurse und Ausbildungen. Das Versprechen ist die Förderung von Entspannung und Kreativität, die „Künstlerinnen“ sind meist Frauen, die sich in der von ihnen geschaffenen (Pseudo-)ästhetik sonnen. Jederfrau eine Künstlerin, wollen wir das denn nicht alle, auch wir Männer?
Und natürlich: Social Media gerecht sind diese Zeichnungen in höchsten Masse, insbesondere auf Instagram, wo sich die Dinge in der Quadratur ihrer Befindlichkeit wunderbar präsentieren lassen (vgl. instagram #zentangle), aber auch im virtuellen Sammelalbum von Pinterest. Hier lassen sich eine unendliche Abfolge von „Kacheln“ aufrufen, die wir bewundernd in dem Bewusstsein geniessen, dass auch wir einmal so schön und sauber zeichnen werden können: Wenn wir das nur wollen!
Ich muss gestehen, es macht nicht unbeträchtlichen Spass und hat Suchtcharakter, obwohl ich mich weigere, dem eigenen Tun die ihm insinuierte esoterische Praxis zuzusprechen. Es ist einfach genaues Zeichnen, das hohe Konzentration erfordert, um es auch ästhetisch ansprechend werden zu lassen. Und man lernt: konzentrierte Linienführung, ein präzises Auge, Genauigkeit und Konzentration. Alles Dinge, die zum Rüstwerk des Zeichnens gehören. Entspannung wird als Asset auch noch draufgepackt. Und obwohl die Paradepsychologen des Zentangle-Imperiums uns immer wieder versichern, das es nur aufs Tun ankomme und es keine Fehler gäbe, ärgert man sich doch, wenn die Muster aus der Reihe laufen, sich Fehler einschleichen oder die Farbe auf dem Papier blutet. Aber das steht auf einem anderen Blatt, nämlich dem des eigenen Egos und der von sich immer wieder geforderten Perfektion.
Weil ich so viel über die Welt der Linien bei diesem „Kachelwerk“ lernen kann, habe ich mich entschlossen, mich für die nächste Zeit dem „Zentangeln“ hinzugeben. Ein wenig Handwerk lernen tut immer gut, auch wenn dies repetitive Muster sind, die dem Zeichnen der Natur nur manchmal nahekommt und die Schwelle zum Kitsch rasch überschritten ist. Aber ich wills auch den LeserInnen meines Blogs nicht ersparen. Bis auf weiteres gibt es einen wöchentlichen Zentangel: da müssen jetzt alle durch!
Und noch ein kleiner Nachtrag in eigener Sache: das eingangs präsentierte Zentangel erinnert mich an die Sonnenblumen in der Vase auf unserem Tisch: optimistisch, sich wiederholend und Ruhe um sich verbreitend.