Hetscherlernte 2021

Hetscherl, Synonyme: Hagebutte, Hetschepetsch, Hiefe

Bleiben wir kurz beim Namen Hagebutte, denn der ist überaus interessant. Er setzt sich aus zwei Teilen zusammen: aus „Hage-„, althochdeutsch „Dornenstrauch„, der unter anderem auch den Hag bildet, die Grenze zum unbewohnten, „wilden“ Gebiet jenseits der Zivilisation. Dort, an diesem dornenreichen Ort befindet sich auch die wunderliche Hexe, die „Hagezussa“. Sie sitzt auf dem Zaun, im Hag, im Raum zwischen Traumzeit und Realität. Vor ihr haben sich die Wohlbestallten jahrhundertelang gefürchtet, aber Hanspeter Duerr hat ihr ein Buch gewidmet. Der zweite Wortteil „-butte“erinnert an den „Butzen“, das Kerngehäuse, das die Frucht so dominiert, viel mehr als beim Apfel. Als Juckpulver haben wir das Innere der Hagebutte verwendet, um den „Feinden“ Schaden zuzufügen: hinein unter den Hemdkragen als wirkungsvoller Gruss der Bösartigen. Zwiespalt liegt dem Begriff Hagebutte zugrunde, Ambivalenz ist ihr Charakter. Diese Frucht wollen wir suchen.

Aber nun zurück zur Banalität unserer konkreten, nüchtern verblassten Welt. Da gibt es unzweifelhaft meinen Aufschrei: Jedes Jahr dasselbe Theater! Die Früchte des Waldes locken mich hinaus in die arg beschädigte Natur Mostindiens und auch mein Sammel- und Konservierungsdrang meldet sich mit aller Macht zu Wort. Ausserdem naht Weihnachten und wiewohl bekennender Atheist, habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, Selbstgemachtes und Selbstgebasteltes zu verschenken, an die, mit denen ich noch essen kann, ohne wegen ihrer Haltungen zu würgen. Ich verschenke Marmeladen, Räucherwaren, Handcremen, Tinkturen, alles fein verpackt in Päckchen, die eben nicht an Weihnachten erinnern. Was bleibt, sind Geschenk und Beschenkte allein.

Aber: Wo unter freiem Himmel zu einem bestimmten Zeitpunkt das finden, was man in verarbeiteter Form verschenken will?

Durch Zufall findet man wohl Vieles, allerdings meist dann, wenn man es (noch) nicht brauchen und verarbeiten kann. Was man aber brauchen könnte, das findet man nur mit Mühe. So ist das eben im Leben. Die Natur ist knapp geworden, hier im Land der Pestizide und der totgepflegten Landschaft. Die von den Bauern wenig geschätzten Hecken oder Naturwiesen sind Mangelware. Heute gibt es kein „Aussen“ mehr, ein jenseits von Kultur: alles ist bereits inhaliert worden, in einem Ausdruck von Kulturlosigkeit. Übrig bleibt Wüste, innen als Phantasielosigkeit, aussen als Devastierung. Darüber habe ich schon an anderer Stelle in diesem Blog geschrieben, deshalb auch nicht mehr davon. Mostinien als schlechter Ort für meine Suche. Da hilft es nichts, dass auf der Wiener Donauinsel undurchdringliche Hecken voll sind mit Hagebutten: ein Ort des ungezügelten Wachstums, mitten in der Stadt. Die Städter schätzen die Natur, die ihnen der Landmann genommen hat. Mostindien ist dein Name, Landschaft, Eintönigkeit dein Gesetz!

Trotz all dem esoterischen, abergläubischen Beginn dieses Eintrags, sind die folgenden Worte eher profaner Natur. Dies hier ist nämlich ein Beitrag, wie man seine eigene Sucheffizienz verbessern kann, sich Fundstellen merkt und auch Jahre später, wenn wieder einmal die Natur ruft, wiederfinden kann. Stromversorgung voarausgesetzt! Ein Beitrag für die Systematiker, die Effizienten, die Peniblen und Kontrollwütigen, die nichts dem Zufall überlassen können. Auf eine App will ich hinaus, wie es so viele gibt, die GPS gestützt auf Landkarten Fundorte gut verorten und bezeichnen können. Am Smartphone installiert, leistet sie im Falle des Falles und zur richtigen Jahreszeit hochgeschätzte Dienste. Der feuchte Traum der Sammelwütigen kann in diesem Fall ein mit Fundstücken reich bestücktes digitales Kartenblatt sein, und dem nagenden Schmerz der Ordnungswütigen zutiefst Linderung verschaffen.

Nur damit man mich an dieser Stelle nicht missversteht: Es geht nicht darum, eine Sammelkarte zu entwickeln, die es erlaubt, Masse zu pflücken und zu verarbeiten, sondern um sich von der Natur in bescheidenem Masse beschenken zu lassen und ihr dafür auch zu danken. Nur das Gedächtnis wird schwächer und schwächer und dem Greise mögen die Segnungen der modernen Zeit wohl erlaubt sein. Es sind nämlich kostbare Dinge, die sich da im Freien finden lassen, aber dem Vergessen anheim gefallen sind und die Wertschätzung dieser Gaben ist unbestrittene Haltung. Wobei wir wieder bei der Naturreligiösität sind und dem Blick auf die Grenze zwischen Realität und Traumzeit. Davon kommen wir wohl nicht los. Da ist auch die Dornenhecke Dornröschens nicht weit.

Doch wer hätte dies gedacht: dass die gefährlich rot schimmerne Frucht aus dem Hag, aus dem Gefilde der „Traumzeit“ und dem Wohnort der Hexe, dem gefährlichen Dornenbusch, sich einst mit digitaler Erfassung abgeben würde müssen. Aber trotzdem droht die archaische Gefahr wie vor Hunderten von Jahren: nur nicht hineinfallen in den Dornenstrauch, der wehrhaft wie eh und jeh über seine Früchte und seine Naturwesen wacht.

Also nix wie raus zu den Hetschepetsch, die mittlerweile an vier Stellen meiner digitalen Sammelkarte vermerkt sind. Empfehlenswert sind festes Schuhwerk, dicke Oberbekleidung (Arme!!) und Arbeitshandschuhe, denn Hagebuttensträucher sind widerspenstige Gesellen, die sich mit den vielzitierten Stacheln der Rose gegen ihr Pflücken wehren wollen. Wie überhaupt: Das Pflücken und Einkochen derselben ist wohl sehr mühsam, was allerdings sehr für den Genuss in achtsamer Bescheidenheit spricht. Und die Beschenkten werden solche Raritäten wohl auch schätzen können. An die Unachtsamen verschenke ich ohnehin nichts mehr. Sie kennen sich nicht aus, mit der Traumzeit und verdienen keine Gaben. Wer von ihnen würden auch so stante pede an Dornröschen denken wollen?

Und der Wind legt sich, und auf den Bäumen vor dem Schloss regte sich kein Blättchen mehr. Rings um das Schloss aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die jedes Jahr höher ward, und endlich das ganze Schloss umzog und darüber hinauswuchs, dass gar nichts davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne auf den Dach.

Brüder Grimm: Dornröschen

Doch all das Suchen und das Stechen und das Gieren nach Genug, das Streben nach Bescheidenheit, aber letztendlichauch das Abenteuer, in dem ich mich in den Garten der Hagezussa wagte: sie alle haben sich ganz tief in mich hineingebohrt. Dornröschen blieb mir diesmal verwehrt. Der Stachel sitzt tief und ich muss ihn gewissermassen aus mir herauszeichnen. Also greife ich wieder zu Fineliner und Qualitätspapier und „tangle“ vor mich hin, bis ich herausgefunden habe, welche Formen der Hag der Hetschipetschi und der alles überblickenden aber längst vergessenen Hagezussa wohl haben könnte:

Hagezussa, Zentangle #15