
Aber wie lange ich auch vor den Weißdornbüschen verharrte und ihren unsichtbaren und in der Luft stehenden Geruch einatmete, mit meinen Gedanken zu fassen versuchte, die nichts mit ihm anzufangen wußten, ihn verlor, wiederfand oder in den Rhythmus einfiel, der seine Blütenblätter hier und da mit juegndlicher Beschwingtheit und in unerwarteten, bestimmten musikalischen Intervallen gleichenden Abständen hin- und herschwenkte, sie spendeten in steter und unermüdlicher, verschwenderischer Fülle ihren immergleichen Zauber, ohne mir jedoch zu gestatten, tiefer in ihn zu dringen, ähnlich wie bestimmte Melodien, die man hundertmal nacheinander spielen kann, ohne doch ihrem Geheimnis irgend näher zu kommen.
Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
Eines der schönsten Naturerlebnisse der letzten Zeit begann mit einem recht enttäuschenden Vormittag. Die diesjährige Suche nach den Früchten von Weissdorn und Schlehe gestaltete sich dabei zunehmend frustrierend. Ich habe ja schon an dieser Stelle von meinen nicht so einfachen Versuchen, der Hagebutte habhaft zu werden, erzählt. Die Schwierigkeiten schienen sich fortzusetzen, selbst an Plätzen, wo ich Blüten und Früchte einst habe wuchern gesehen.
Aber dass es an dieser Stelle keine Weissdorn- oder Schlehenfrüchte geben sollte, war eigentlich unvorstellbar. Ich weiss schon: es gibt Jahre in denen die Früchte, das Obst, das Gemüse nur sehr verhalten und kärglich wachsen und reifen. Und heuer war in Mostindien offenbar ein besonders schlimmes Jahr: der Hagel, der beständige Regen, die wenigen Tage mit Sonnenschein und die im Schnitt niedrigen Temperaturen haben es der Vegetation besonders schwer gemacht. Aus mit lustig, Generalstreik eben. Selbst an diesem Ort:
An der Grenze zwischen landwirtschaftlich genutzten Äckern und Weiden und dem Flusschen mit dem alten ketischen Namen „Murg“ („morgja“) haben sich recht widerständig ein paar natürliche Hecken erhalten, die den Zugang zum Flusslauf versperren und so einer recht lebendigen Schar von kleinen Vögeln, einigen Graureihern und dem unvermeidlichen Rabenvieh Schutz und eine ausgezeichnete Nahrungsquelle bis tief in die Wintermonate bietet. Hollunder, Liguster, Hagebutte, Weissdorn und vor allem die von mir so nachgefragte Schlehe wachsen dort in Hülle und Fülle. Sogar eine wunderschöne Eberesche habe ich dort gesehen. Sie biegt ihre Krone zum Wasser hin und bietet das perfekte Bild des Friedens und der Heiterkeit. Vor wenigen Jahren im Spätsommer war der Wasserlauf so ausgetrocknet, dass ich vorsichtigen Fusses im Flussbett aufwärts schlendern konnte und dabei Scharen von Vögeln vor mir herscheuchte, die sich an den Früchten gütlich getan hatten. Ein paradiesischer Zustand inmitten der extensiv genutzten landwirtschaftlichen Flächen am Beginn des Tannzapfenlandes. Doch nicht dieses Jahr, heuer war alles anders. Viel Wasser führte das Flüsschen und an den Hecken an seinem Ufern gab es kaum Früchte zu sehen.
Kein Weissdorn und keine Schlehen also und wenn, dann singulär nur sehr kleine und unentwickelte Früchte von blasser Farbe. Das, was ich fand, lohnte kaum das Pflücken. Es kommt eben immer anders als man denkt: der verlässliche Sammelplatz war einfach leer. Schon wollte ich enttäuscht wieder nach Hause gehen, als ich ihn fand, den hohen Strauch, die berühmte Ausnahme von der unrühmlichen Regel dieses Sommers: ein Prachtexemplar. Das stand ein riesiger, alter Weisdornbusch am Ufer und an seinen Àsten hingen schwer und gross tiefblaue, grosse Früchte: reif, nicht bitter und wunderschön. Ich war aufgeregt: denn so dunkel und gross waren die Früchte und so ungewöhnlich ausladend war der Baum inmitten der witterungsbedingt kargen Landschaft, dass ich dem Glück nicht traute. Ich wusste, dass die Früchte des Weissdorns oft untereinander bastardisieren und daher in eine Reihe von unterschiedlichen Varianten vorkommen, blieb aber dennoch misstrauisch. Erst als ich einige Früchte kostete und mich an den vorhandenen Dornen stach, die Form der Blätter überprüft hatte, war ich sicher, mich am richtigen Fundort zu sein. Um in meinem Pflückrausch ungestört zu sein, entschloss ich mich, die Böschung hinabzusteigen und durch die Büsche zu zwängem: die schweren Äste des Strauches schlugen mir um die Ohren.
Am Flussufer angekommen merkte ich sofort, das ich mich wieder im Paradies des naturbelassenen Biotops befand. Der Schutzwall, in dem sich Hagezussa noch immer verbirgt, zeigte auch hier seine Wirkung. Gegen das Eintrittsgeld von einigen Dornenkratzern im Gesicht und an den Händen und mit Laub unterm Kragen des Leibchens, hatte ich mich schliesslich durch das enge Tor gezwängt, das die Äste und Zweige des Weissdorns einen Spalt breit für mich offen gelassen hatten. Dann stand ich auf einem winzig kleinen Strand mit bunten Kieselsteinen und sah, dass die Zweige des Weissdorns fast bis ganz ins Wasser reichten. So war das Pflücken überaus bequem und ich tat, was ich tun musste. Aber nicht Gier, sondern viel Demut war dabei. Geborgen stand ich inmitten der üppigen Zweige und konnte mich ohne Mühe und in Gelassenheit bedienen. Dabei umhüllte mich eine Art Tongewebe: aufgeregt zwitschernde kleine Vögel, erbost schimpfende Raben und das Rauschen des Wassers, das kleine Stromschnellen zu meinen Füssen umspülte.
Und dort stand ich, pflückte gelassen, aber ruhte ich mich mehr aus, als dass ich pflückte. Wenn ich schon, altem Aberglauben folgend, mich hier zwar nicht mehr als junger Liebender mit Partnerin lüstern in seinen Schatten gelegt hatte, so erfrischte ich mich wenigstens im Alter an seiner wohltuenden Art. Am Fusse alter Weissdornbüsche sollen ja, auch dem Aberglauben folgend, Schätz vergraben sein. Meinen hatte ich allerdings schon geborgen. Glück durchströmte mich in einer Intensität und Dauer, die überwältigend war. Und das hing unter dem sonnendurchfluteten Blätterwerk weniger mit dem Glück des Sammlers zusammen als mit dem Genius Loci. Ich war daheim.