
Das ist der Vorteil von uns verrufnen hagestolzen Leuten, dass wir, was andre knapp und kummervoll, mit Weib und Kindern täglich teilen müssen, mit einem Freunde, zur gelegnen Stunde, vollauf genießen.
Heinrich von Kleist: Der zerbrochene Krug
Jetzt, ein wenig mehr als ein Jahr nach der Pensionierung scheinen endlich die Träume aufzuhören, in denen sich die Reste des früheren Lebens eingelagert haben. Ich fühle, wie voller Unruhe, Beklemmung, ja sogar Angst die Jahre des Berufslebens gewesen sind, wie einerseits erfüllt und doch auch am Rande innerer Leere der mässig Erfolgreiche vierzig Jahre lang tätig war. Immer ist es präsent gewesen, das verzweifelte Bemühen, frei und unabhängig zu bleiben. Sofort auf alles zu reagieren, die Ziele durch unentwegtes Reisen energisch voranzutreiben, sich immer dem professionellen Rechtfertigungsdruck unterziehen zu wollen. Ein Leben voller kon-de-struktiver Konflikte, mit sich und den Anderen. Dem Sturm, der da im selbstgewählten Leben wehte, breit aufgestellt widerstehen zu können, frank und frei und voller Energie. Auf keine familiären Bindungen Rücksicht nehmen zu müssen. Immer nach vorne zu schauen. Ins Antlitz einer Schimäre, etwa?
Das alles war einmal. Ruhe ist eingekehrt. Langsam wandert der Hagestolz den Weg entlang und betrachtet die Welt, deren unverzichtbarer Teil er einst gewesen ist. Müde geworden ist er mittlerweilen, ob seines Werbens um die Welt und seinem Kampf um eine Position in ihr. Diese schillernde, begehrenswerte Welt erscheint mit einem Male als flache Scheibe, ohne eigentliche Spannung, bedeutungsarm und abgeschmackt. Nicht draussen, sondern in seiner inneren Welt scheint das Abenteuer des Alters zu liegen. Dies gilt es, zu entdecken. Zeit dafür ist da. Der Tod allerdings droht.
Es ist, als hätte man das „normale“ bürgerliche Leben auf verquere Weise eben NICHT begehen können, aus Mangel an Zeit für eine wie auch immer geartete Familie, die das Leben über weite Strecken begleitet hätte. Ein Hagestolz, eine Hagestolzin scheint aus Mann oder Frau geworden zu sein; ein eingefleischter Junggeselle, eine ewige Jungfrau, wie gemeinhin gespöttelt wird. Niemals gab es den Wunsch, eine Familie gründen zu müssen oder zu wollen, ganz selten der Gedanke, das dies erstrebenswert sein könne. Das manchmal gute, manchmal weniger gute, aber immer zufriedenstellende Einkommen hätte es freilich erlaubt, Haus und Grundstück, Hausstand und Besitz zu erwerben. Doch dem Geld hat man nie besonderen Wert beigemessen, das Schielen nach Lebensversicherungen und die sgn. Lebensverdienstsumme zu tiefst verachtet. Viel wichtiger erschien immer wieder die Freiheit, mit der der Welt hochgestimmtem Herzens und selbstbewussten Blicks sowie mit mutigen Plänen begegnet werden sollte. Ja oder Nein sagen dürfen, ohne Rücksichten nehmen zu müssen, und niemals zögerlich sagen: „Ich weiss nicht so recht …“
Das bürgerliche Bild vom Hagestolz drängt sich auf, ein Begriff, der längst Bedeutung und Verwendung verloren hat. Als „Hagestolz“ bezeichnet zu werden, kam einst, vor einigen Jahrhunderten, jenen zu, deren schmales Erbe es dem Zweit- bzw. Nachgeborenen nicht erlaubte, einen Hausstand zu gründen. Wie auch immer: und sollten es die Hagestolze nun doch im Laufe ihres Lebens zu Vermögen gebracht haben, so wurde dieses nach ihrem Tod vom Grundherren, Landes- oder Stadtherren eingezogen Staat eingezogen.
Doch nicht die rechtliche Bedeutung des Begriffs interessiert hier, welche ohnehin historisch schon lange obsolet geworden ist. Es ist vielmehr die gesellschaftlich-soziale Rolle, die hier im Zentrum des Klagens um ein möglicherweise versäumtes Leben steht. Denn das Leben des Hagestolzen erscheint mitunter mehr als ambivalent. Befreit von den Verpflichtungen, die Frau, Kinder, ja die gesamte Familie abverlangen, lebt er dem Grunde nach bindungsarm und sorgenbefreit neben all den Familien dahin. Er ist in höchstem Masse individuell und asozial, genügte sich immer selbst, nahm das Mass stets am eigenen und hohem Massstab. Keine Kompromisse, niemals! Während sich die „Situierten“ im Mainstream gesellschaftlichen Lebens behaupten und stolz mit ihren Verpflichtungen und Beschränkungen hervortun, bleibt der Hagestolz stets Aussenseiter und hat zutiefst genossen, sich seine Distanz zur bürgerlichen Existenz und seine Eleganz der Lebensanschauung behalten zu können. Nicht untpisch ist das Bild dieses Typus in der Restaurationszeit aufgekommen, als es auch darum ging, zu mittlerweile überkommenen Lebensformen der vornapoleonischen Zeit zurückzukehren und die Institution von Ehe und Familie zum Ruhepunkt und zur Idylle des eigenen Lebens zu verklären. Zurück zur Politik und zum gesellschaftlichen Gestus einer längst vergangenen Zeit. So findet der Hagestolz seinen literarischen Ausdruck bei Nestroy, Schreivogel, Lenau oder Stifter. Mehr Spott über den Aussenseiter ist es, was uns dabei begegnet als Realismus. Empathisch bis verzweifelt wird das Hohelied auf den genormten Werdegang des Bürgers gesungen. Natürlich: ein ödes Ende muss auf den verschrobenen Sonderling wohl warten: der Tod in aller Einsamkeit und eben nicht umringt von Kindern, Enkeln und Enkelkindern.
Ich hab‘ kein, Weib, ich hab‘ kein Kind
In meiner öden Stube,
Hier tönt’s nicht: „guten Morgen!“ lind,
Hier tobt kein muntrer Bube.Und auch kein treuer Hund mir naht
Nikolaus Lenau: Der Hagestolz.
Mit schmeichelndem Gewedel:
Der Rauch nur ist mein Kamerad,
Und dort der Todtenschädel.
Zwei Bildende Künstler sind mit dem (zugegeben veralteten) Begriff des Hagestolz aufs Engste assoziiert. Einmal der ironische Maler des Biedermeiers, Carl Spitzweg, der die trottelige Einsamkeit des Hagestolz, gut gekleidet und aufrechten Ganges, inmitten einer heiteren Schar von glücklichen Paaren malerisch wohl am besten getroffen hat. Und während er sich über ihn lustig macht, distanziert er sich wohl auch mit wohltuender Ironie vom Lebensglück und -begehren der Anderen. Der Hagestolz ist einer seiner vielen Sonderlinge des Biedermeier, welche Spitzweg liebevoll aber mt ironischer Distanz zu malen vermag. „Ein Maler, immer gut für die Herzensergiessungen der bescheidenen Bürgerseele“, wie die NZZ diesen Mann mit rechtskonservativem Pathos beschreibt. Ein anderer, ein Russe freilich, der rund 50 Jahre später lebt, nimmt das Schicksal des „Alten Junggesellen“ viel ernster, tragischer, bedrohlicher. Die Einsamkeit, die seinemem Bild vom „Alten Junggesellen“ innewohnt, ist überwältigend und sehr bedrohlich. So möchte keiner dem Ende seines Lebens begegnen. Ein alter Mann auf seinem vielgenutzten Bett, dem treuen Begleiter des späten Lebensalters und kramt in ener wohl metallenen Kiste mit seinen Lebenserinnerungen. chaotisch der Hintergrund. Ein Hagestolz, nur mehr sich selbst verpflichtet und in die Anarchie der Schwäche und der Krankheit abgleitend.

Natürlich kommt man beim Thema auch nicht an Adalbert Stifters Novelle „Der Hagestolz“ vorbei, ein typisches Produkt der Restaurationszeit nach den Feldzügen Napoleons: in ihm operiert der Autor mit üppig ausgestalteten Gegenbildern einer kammgeschwellten, stürmenden und vom Leben noch recht unbedeleckten Jugend und einem verbitterten, ängstlichen und zurückgezogenen Alten. Was also ist das beste Leben? Stifter schreibt diesen Bildungsroman, vor allem, um uns zu erbauen und der Jugend den Weg zu weisen. Die unerbittliche Autorität des alten Oheim zwingt den vor dem Eintritt ins Berufsleben stehenden Victor zu Dingen, die dieser bis dato in seiner Naivität und unbedarften Anständigkeit niemals in Erwägung gezogen hätte. Freiheitsberaubung ist nur eine davon. Der Hagestolz wird hier zu einer autoritären Instanz, die weiss, was gut für den Heranwachsenden ist: früh und wohlbestallt zu heiraten, Kinder zu bekommen und den Zyklus bürgerlichen Lebens bestmöglich abzubilden.
Und weil wir gerade den Charakter im Laufe der Zeiten Revue passieren lassen, kommen wir auch auf den Wiener Typus des beamteten Sonderlings, begleitet von den schmalzig sentimentalen Ausführungen eines Hans Moser (1941) bzw. Peter Alexanders:
Der alte Herr Kanzleirat,
Hans Moser: Der alte Herr Kanzleirat. Lied, 1941.
Träumt heute von der Heirat,
Die er versäumt hat,
Und jetzt ist er allein
Wie schwer ists doch so einsam,
Wie schön wärs doch gemeinsam
Was man verträumt hat,
Das bringt man nimmer ein.
Ein typisches Zeugnis im Reigen der bewundernswerten Sonderlinge, geraunzt vorgetragen vom Altmeister der Wiener Verlogenheit. Da man den nuschelnden Moser und den Süssholz raspelnden Alexander wohl in den eigenen Jugendjahren einige Male gehört hat, bevor sie dem Vergessen anheim gefallen sind, fallen diese Zeilen automatisch ein. Und auch weil man selbst im Dienste eines mittlerweilen prekären Staates gestanden ist und steht: da erscheint der alte Herr Kanzleirat auf ganz natürlich Weise und stülpt sich dem Ministerialrat über.
Noch ist man nicht tot, todkrank wohl auch nicht. Dem trüben Gedächtnis erscheint das berufliche Leben zwar als vergangen, doch schon auch wertvoll. Und zurückgezogen hat man sich nicht auf ein düsteres Schloss, wie der autoritäre Oheim in Adalbert Stifters Novelle, sondern aufs Land in Mostindien. Und erquickt wird man noch immer durch die Gemeinschaft mit einer Frau, die man erst vor einem Jahrzehnt kennengelernt und zutiefts lieben gelernt hat. Ohne Ehe, versteht sich und ohne leibliche Kinder. Und man ist auch kein Hagestolz, sondern war das ganze Leben wohl ein „Single“ der modernen Zeit.
schöner essay über hagestolze. wenn ich noch ein paar jahre durchhalte, bin ich auch einer.
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Danke schön. Und na dann, welcome to the club!
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Die Konturen der Gegenüberstellung „Hagestolz“ hie und „Familienmensch“ da sind hart, wie sie Literatur und Malerei im 19. Jahrhundert gern gezeichnet haben (und wie sie Hans Moser 1941 als Klischee nachgesungen hat). Ich bin richtig erleichtert, am Ende zu lesen, dass da Liebe ist und Reichtum des Erlebens. Wenn man an dieser Stelle die Decke der Lebensgeschichte lupfen würde, kämen – da wette ich – anstelle des Schwarz-Weiss-Gegenüber viele Zwischentöne zum Vorschein. Ich wette, weil es schätzungsweise die meisten von uns ähnlich trifft. Die Betonung liegt auf „viele“: Pluralisierung der Lebensmuster, Pluralisierung von Heimaten, von Begegnungen und Erfahrungen. Mir geht es so, dass mir auf meine alten Tage manchmal das eigene Leben als Plural erscheint: Ich bin zwar immer noch irgendwie derselbe, der ich vor sechzig/siebzig Jahren gewesen bin, aber meine verschiedenen Leben kriege ich kaum unter einen Hut. Und ich neige dazu, da eher einen Reichtum als ein Problem zu sehen.
Isn’t it rich?
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It is, surprisingly rich!
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Interessant! Ich neige auch zu der
Auffassung, dass es heutzutage und vielleicht schon immer vieles zwischen den Extremen gegeben hat. Dass die Rahmenbedingungen für Glück vielfältiger sind als die Normen
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Darüber könnte man trefflich streiten: ich habe auch keineswegs Extreme darzustellen versucht, sondern Lebensmöglichkeiten aufzeigen wollen, die gar nicht so selten und „extrem“ sind.
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Mit Extremen habe ich nur die entgegengesetzten Enden des Spektrums gemeint. Mir hat dein Hagestolz Text sehr gefallen
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Eben erst entdecke ich dieses sehr sorgfältig gearbeitete und schön bebilderte Essay. Ich habe zwar die letzten 21 Jahre in einem KMU in der kleinen Stadt verbracht – und vor fünf Jahren sogar geheiratet. Und doch, auch mich beschäftigen rückblickend die Fragen danach, was ich anders gemacht hätte…
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Danke für den Kommentar!
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