Es beginnt ein wenig eigenartig: und es endet fulminant. Manchmal muss man geduldig sein und seine Wege zu Ende gehen.

Winterhur. Vom monströs mit Beton zugekleisterten Bahnhof, der seit ewigen Zeiten umgebaut wird und dann von seinem Vorplatz aus, der vegetationsbefreit und daher autofreundlich seine Zähne bleckt, erreiche ich die nächste Oase nach fünf Minuten Spaziergang. Eine Art überdimensionales Touch Pad, das zur Orientierung am Eingang der Fussgängerzone aufgestellt wurde und auf dem man per Fingerdruck die Umgebung nach wichtigen städtischen Orten absuchen kann, weist mir den Weg. Noch sitzen Leute im Freien, geniessen ihren Kaffee und die Zudringlichkeit ihrer eigenen Blicke, die die Flächen und Passanten vor ihnen abgreifen.

Da ist zunächst der gemessen hübsche Stadtgarten, der von einer Horde Jugendlicher in Pfadi-Uniformen (für Nichtschweizer: Pfadi=Pfadfinder) bevölkert wird, die sich rings um einen alten Baum gruppiert haben und von dort aus, zu welchem Geschäft auch immer, in den Park ausschwärmen. Sie sind, wie viele Jugendliche, unbegreiflich aufgeregt, auf einem bedeutend höherem Aktivitätsniveau als ich es gerade bin, die Bedächtigkeit meines Alters störend. Was treibt sie an, die Halbwüchsigen und Unfertigen? Fast stolpere ich über einen pubertierenden Jungen, der einer herumwatschelnden Taube folgt: Schritt für Schritt hinter ihr her trippelnd, ihre Bereitschaft zur Flucht testend, mit blöde verzogenem Gesichtsausdruck. Ich wende mich ab, lasse meinen Blick wieder in die Ferne schweifen, um der Hektik des absurden Geschehens vor mir zu entkommen.

Der Stadtgarten macht trotz des jugendlichen Volkes, der ihn bevölkert, einen eher strengen, aufgeräumten Ausdruck, den ich dem Schweizer Begehren nach Ordnung und Sauberkeit geschuldet sehe. Sauber die Wege und Rasen, korrekt aufgestellt die Parkbänke, die Spielgeräte und Blumenrabatte, sauber gekämmt die Kieswege. Zwei Gebäude des Kunst Museums Winterthur befinden sich in ihm, mit ihrer klassizistischen Architektur Gemessenheit und Tradition ausstrahlend: der Reinhart am Stadtgarten und das Geäude am Stadttor. Man könnte dieses Ensemble sehr leicht auch in der Wiener Innenstadt antreffen: im Volksgarten, Burggarten oder Stadtpark, nur dass hier in Winterthur eben alles kleiner, kleinstädtischer, letztendlich reinlicher und kontrollierter erscheint.

Noch bevor ich die Stufen zum pompösen Eingang des Museums am Stadttor) betrete, fällt schon ein unangenehmer, junger Mann des Sicherheitsdienstes über mich her, um zu überprüfen, ob ich denn eine der Drei-G-Regeln dokumentieren könne. Es ist ungewöhnlich vor einem Museum einem paramilitärisch anmutenden Sicherheitsdienst zu begegnen, ich spüre den Widerstand in mir, mich mit derartiger Geisteshaltung abzugeben, die sich auch in der Kleidung des Mannes widerspiegelt. Protzig verwehrt er mir den Eintritt. Schwarzes Hemd, schwarze Krawatte, schwarzer Anzug, dicke Uhr und eine jener Frisuren, die rund um den Kopf herumgeschoren sind, mit peinlich genauer Präzision die Mode migrantischer Jugendlicher widerspiegelnd. Cool eben, wie man das eben in jenen Kreisen bezeichnet; affig, wie in meinen, die nicht immer politisch korrekt zu bleiben vermögen. Seine Körpermasse dringt mir aus seiner Kleidung aufdringlich entgegen und vermitteln den Eindruck unangenehmer Ausdünstung. Seine Stimme schnarrt mir entgegen. After Shave weht. Muss das denn sein an einem Tempel der Kultur und Zivilgesellschaft? Kann da nicht Ungezwungenheit, Freundlichkeit und eben nicht-militärischer Umgangston herrschen? Kann Kontrolle nicht auch menschenfreundlich geschehen? Langsam suche ich nach meinem „Grünen Pass“, lasse mich dabei aber nicht in das Zeitkorsett drängen, das der Uniformierte für mich vorgesehen hat. Deshalb werde ich auch aufgefordert, gleichzeitig meinen Ausweis hervorzukramen. Mein Handy lädt noch immer und Zeit muss gespart werden. Warum eigentlich? Das Museum ist doch nahezu leer? Doch meine Zeit ist meine Zeit: ich entspanne mich in meinem Uncoolsein und werde nur noch langsamer. Wir mögen uns nicht, das steht mittlerweile fest.

Nachdem ich mich also widerwillig legitimiert und meine vermeintliche Umständlichkeit ausgereizt habe, betrete ich das Foyer des Museums: mir begegnet gottseidank die überschwengliche Freundlichkeit einer älteren Dame am Ticketschalter. Sie freut sich über die Wiener Tonart meiner Stimme und weist mich zur Belohnung und in aller augenzwinkender Direktheit auf mein Alter hin: denn Pensionist zu sein, erspare mir drei Franken. Zudem möchte sie mich auch noch zum Besuch der Ausstellung über den Schweizer Expressionismus überreden, welche im Reinhart stattfindet. Die gäbe es dann gleich noch obendrauf am Eintrittsgeld.

Düsternis umfängt mich. Eine dämmrige, muffige, abgenutzte und so gar nicht einem modernen Museum ansprechenden Architektur zeigt sich zögernd. 1917 gebaut „residiert“ der Bau, wie es im Wikipedia Eintrag ein wenig hölzern aber letzten Endes doch stimmig heisst. Räume mit ornamentaler Holzarchitektur, angegraute Wände, unzureichend mit natürlichem Licht versorgt, ruhebankbefreit, mit wenig Achtsamkeit für die Bedürfnisse des Publikums. Aufsichtspersonal ist nicht zu sehen. Mich umfängt ein etwas beklemmendes Gefühl. Schade eigentlich, denn was hier in der Dauerausstellung angeboten wird, sind die grossen Maler der Moderne: Klee, Mondrian, Picasso, Magritte, Schwitters. Aber Abstrakte Kunst erregte damals in den 1930er Jahren den Widerstand der Mitglieder des konservativen Kunstvereins, der hier das Sagen hatte. Der aufgeschlossene und perspektivisch denkende Konservator Heinz Keller hatte es schwer. So spürt man auch heute noch, dass die Moderne für diese Räumlichkeiten wohl nicht vorgesehen ware. Aber auch die Moderne wird zur Tradition und das Neue möglicherweise zum Trend: so ist der Lauf der Geschichte, auch in Kunst und Kultur. Was tun mit diesen ausgedienten Räumen aus einer anderen Epoche? Sie angesichts der guten Kunst elegant übersehen?

Ich bin überrascht, welch exzellente und interessante Werke dieses Museum zu bieten hat und welch unzureichende Infrastruktur den Blick auf sie zu verwehren versucht, fast so, als würde man sich für die Moderne schämen und müsste sie in einer historischen Rumpelkammer verstecken. Hin und hergerissen zwischen einer Maria Lassnig, einem Magritte und den entsetzlichen Holzvertäfelungen, übe ich mich in Konsequenz und dringe eilends zu jenen Künstlern vor, um die es mir bei diesem Besuch eigentlich geht: Alan Charlton und Richard Long. Die grossen Meister müssen bis auf Weiteres warten. Die Avantgarde der 1960er Jahre ist gerade spannender für mich als jene des 19. Jahrhunderts.

Dann, fast schon am Ende der musealen Irritation angelangt, gelange ich in ein neues Gebäude, das mich ein wenig an eine umgebaute Lagerhalle erinnert, aber in seiner Helligkeit und Nüchternheit beruhigt. Land Art und monochrome Gemälde kann ich mir nur sehr schwer in den gerade erlebten, düsteren Räumen vorstellen. Dieser Zubau, den ich über eine etwas unbeholfen wirkende Passerelle erreiche, wurde Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts errichtet und beherbergt dann auch die von mir gesuchte Sonderausstellung. Ein passender Ort für die grossflächige und auch etwas unbescheidene Kunst der beiden.

Doch noch viel mehr Paradoxien für mich am heutigen Tag. Etwa der Begriff der Dialogausstellung. Das kann wohl vieles heissen, hier meint es allerdings den Dialog zwischen den Werken zweier Künstler, geprägt vom Willen des Kurators. Der eine, Alan Charlton, malt in Perfektion die Nichtfarbe Grau auf Leinwänden von definiertem Verhältnis, sorgsam darauf achtend, ja keinen Pinselstrich und damit seine „Handschrift“ kenntlich werden zu lassen, der Andere, Richard Long, bringt Naturobjekte (Steine, Schwemmholz, Fallholz) in den Raum und drapiert sie in gewusster Reihenfolge, verweigert aber selbst den Begriff Land Art, denn seine Projekte finden im Innenraum ihre Bühne. Beide Künstler, ungefähr gleichaltrig, gehörten einst zur Avantgarde der 1960er Jahre, beide wollen hinter ihren Arrangements verschwinden und die Dinge für sich sprechen lassen. Dialog also von ähnlichen Standpunkten aus, mit unterschiedlichen Medien und ohne je miteinander tatsächlich in Dialog getreten zu sein? Immer ein Raum, Graumalerei an der Wand, Skulpturen, der Natur entnommen auf den Böden. Die ausgestellten Werke beider aus der Dauerleihgabe derselben Menschen, der Sammlung Agnes & Fritz Brecht. Definiert das Dialog? Haben die Sammler die beiden in einem Dialog gestanden? Tatsächlich ist es spannend, die Objekte aneinander zu messen: jene aus der Natur mit ihren Verwitterungen, Urwüchsigkeiten, Unregelmässigkeiten mit jene aus der Werkstatt der Perfektion, glattgestrichen, unbeeinflusst vom Aussen, abstrakt wie die moderne Stadt in ihrer Funktionalität und Glätte.

Das ganze wirkt ein sehr gekünstelt, dann aber doch auch interessant, nüchtern und absolut unromantisch: aber auch ein wenig seelenlos. Schon will ich mich enttäuscht abwenden. Dann aber der zündende Funke, den ich immer von einer Ausstellung erwarten will. In einem kleinen Nebenraum die Videoarbeit von Richard Long aus dem Jahre 1969 „Walking a straight 10 Mile line forward and back, shooting every half mile.“ Richard Long „begeht“ den Raum Natur und schafft dort Kunst, so und auch auf andere Weise. Daneben eine Landkarte eines anderen Projekts mit den innerhalb einer vermessenen Fläche der Landschaft Englands begangenen Wege, ein privates Wegenetz gleichsam, das entsprechend dokumentiert wird und den Kunstraum Natur vermisst. Ich denke an mein Gehen draussen, das zwischen Körpergefühl, Naturraumerfahrung und medidativer Abgehobenheit changiert. Ich habe den Angelpunkt des Tages gefunden und das, was von ihm bleiben wird. Wer die Website von Richard Long durchforstet, wird auch seine Gänge finden. Etwa jenen, von Vergänglichkeit geprägten:

Wind Stones
Long Pointed Stones
Scattered along a fifteen day walk in Lappland
207 Stones turned to point into the wind.
1985

Richard Long: Wind Stones

Und dieses künstlerische Begehren, ihre Umsetzung und Vergänglichkeit: die haben meinen Tag gerettet!