
Beginnen wollen wir mit einer Kindheitserinnerung. Obwohl alle waschechte Städter, wanderte meine Familie viel und ausgiebig. Die Mutter und Grossmutter im unvermeidlichen Dirndl, der Bub in kurzen, speckigen Lederhosen, alle drei wollene Stutzen und klobige Bergschuhe an den Füssen – auch wenn es nur in den Wienerwald ging. Die Sommer verbrachten wir in Mönichkirchen, einem „Luftkurort“ am Semmering, einem Ort, der bis heute eine altmodische „Sommerfrische“ geblieben ist. Natürlich gab es viele Regeln für das Kind in der Natur: keine Sitzbänke ausgraben, nicht vom Wanderweg in die lockende Wildnis ausbrechen, sich von Stacheldrahtzäunen fernhalten, unerlaubt keine schwarzen Beeren essen (Tollkirschengefahr!!) und das Wichtigste: Keine Felder zu queren und sich nur, wenn überhaupt notwendig, an deren Rand fortbewegen. Soviel Achtung hatte man vor der Arbeit der Bauern allemal, auch als im Krieg leidgeprüfte Städter! Ach wie schön wäre es gewesen, eine Linie in das wogenden Weizenfeld zu ziehen, indem man in kindlichem Entdeckergeist und mit Wagemut eine schöne gerade Linie mit seinem Körper hinterliess, einfach hindurchlief! Mitten durchs Feld latschen, das hätte man gerne getan und seinen Impact bewundert. Im für diesen Beitrag wichtigen Jahr 1967 war ich wohl noch nicht zu alt für derartige „Sperenzchen“ (… so hätte es meine Mutter genannt und mir eine Tachtel (=Kopfnuss) verabreicht, hätte ich gewagt, meinen Traum von der Geraden Linie im Weizenfeld wahrwerden zu lassen …). Und wenn dich der Bauer sieht, dummer Bub?, fragte sie in aller Strenge. Ich nickte. Aber eigentlich steckte ein Künstler im Kinde und den kümmerte ein Bauer nun mal recht wenig!
Im Jahr 1967 als ich diesen Impuls unterdrückte, unternahm ein junger Kunststudent von zweiundzwanzig Jahren Ähnliches. Er nahm in London den Zug von der Waterloo Station Richtung Südosten, stieg dann nach rund 30 Km aus und suchte eine begraste Wiesenfläche. Dort begann er, auf einer geraden Linie hin und herzugehen, bis seine Füsse das dort vorkommende Gras niedergetreten hatten und der Einfall des Sonnenlichts erkennen liess, dass eine Linie entstanden war. Er fotografierte dieses Bild und beschriftete es mit roten Stift mit „A Line Made by Walking“ (Bild!) und schrieb mit Bleistift noch dazu: England 1967. Dieser bewusste und jahrelang vorbereitete künstlerische Akt begründete das Oevre von Richard Long, das zumindest in der Anfangszeit vom bewusstem Gehen in der Natur geprägt war. Heute ist Richard Long einer der bekanntesten und renommiertesten Künstler der sgn. Landart. A Line Made by Walking wurde zur wichtigen Referenz für die Kunstrichtung der Land Art der kommenden Jahrzehnte. Mittlerweile sind Aktionen in der Landschaft schon lange in die Niederungen der Kunsterziehung der sgn. Waldkindergärten angekommen und gehören gerade hier in der Ostschweiz zum gewohnten Bild bei Spaziergängen. Es sind pseudo-künstlerische Interventionen in der Natur, sorgfältig von Naturpädagoginnen geplant, mehr oder weniger begeistert von Kindern umgesetzt und gerade NICHT für die Ewigkeit bestimmt. Die Natur hat einfach immer den längeren Atem. Naturschutz zählt in diesen Kreisen.

Doch von Kunst soll hier die Rede sein und nicht von Kunstpädagogik. Daher ist die Frage zu stellen: Wie „kommt“ man zu einem Kunstwerk wie der „Geraden Linie“, einer Arbeit, die sich gegen die damals noch immer bestehenden Normen der Gebundenheit an ein Atelier und des Verkaufs am Kunstmarkt komplett entzog? Denn die von Long nach ihrem Vorbild geschaffenen Arbeiten lösten sich von selbst auf im Gang der Natur, der künstlerische Akt war vergänglich und daher bescheiden. Er war zunächst nicht verkäuflich und auch ohne jede Öffentlichkeit, nur für den Künstler bestimmt. Das war für viele unverständlich. Wenn man nichts sehen und kaufen konnte, war das dann Kunst? Nichts blieb für den Verkauf, ausser das Foto, das der privaten Dokumentation der künstlerischen Aktion diente. Allerdings befindet es sich heute in der Tate – Gallery in London und ist so wiederum Bestandteil des Kunstmarktes geworden. Jedoch: in seiner Minimalistik, kreativen Intelligenz und Zerbrechlichkeit sucht es seinesgleichen. Es ist ein Denkmal für die Vergänglichkeit des Menschen und seiner Hervorbringungen.
Ein Schelm, der dem Künstler trickreiches Verhalten unterstellt und nicht begreifen will, dass das bewusste Niedertrampeln von Gras auch Kunst sein kann und nicht nur das Werk eines unbedarften Kindes oder schrägen Erwachsenen. Denn Longs Gerader Linie waren natürlich Überlegungen ästhetischer Natur vorangegangen: Wie kann ich eine Skulptur in und mit der Landschaft erschaffen, ohne diese dauerhaft zu verändern? Was sind die grundlegendsten Formen von Kunst? Was bedeutet der Gang in der Landschaft für die eigenen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten? Kann Gehen denn ein schöpferischer Akt sein? Das, was hier Richard Long überlegt, findet sich im Kern auch in der Literatur Tomas Espedals wieder, über den ich an anderer Stelle geschrieben habe.
Wer hier einen auf die Sensation und Irritation des Publikums schielenden Gag eines nach Anerkennung suchenden Künstlers vermutet, liegt gleichermassen falsch. Denn das Werk hatte gerade wegen seiner genialen Einfachheit und Konkretheit eine Vorgeschichte der Reduktion. Der Weg dazu dauerte Jahre. R.H. Fuchs erzählt davon in einem Katalog anlässlich der Ausstellung Richard Longs im Guggenheim Museum 1986:
Gewandert sei Richard Long schon sein Leben lang. Ihn habe das Outdoor – Leben begeistert. Überhaupt habe für ihn der ständige Rhytmus des Gehens immer als ideale Methode gegolten, um entspannt und konzentriert denken zu können. Auftauchende Assoziationen und Ideen würden einem dabei die Landschaft selbst in den Kopf pflanzen, so meinte er. Schon vor seinem Umzug nach London habe Long der Gedanke an geometrische Formen in der Natur interessiert, er habe dabei sogar einen gewissen Stil entwickelt, sichtbar etwa in seinem Werk Turf Circle („Kreis im Rasen“, 1965). Dafür hat Long eine kreisrunde Fläche aus einem Rasenstück geschnitten, eine Schicht Erde entfernt und dann die entfernten Rasensegmente passgenau wieder in dieses Loch versenkt. Ein Produkt entstand, das an die Speichen eines Fahrrades erinnert. In Vorbereitung der geraden Linie habe er auch im Jahr 1965 zwei Modelle aus Gips hergestellt: An Irish Harbour und Square of Ground, in beiden hatte sich schon der Zug zum Minimalismus abgezeichnet. Aber noch eine anderes Prinzip war für Long wichtig: das Verschwinden der Kunst in der Natur. Eine derartige Vergänglichkeit entspräche der zeitlich begrenzten Erscheinung des Einzelnen in der Welt. Dies wolle der Künstler in seinen Werken auch zu Ausdruck bringen. Paradigmatisch dafür war sein Werk aus dem Jahr 1962: A Snowball Track (Bild!). Er hatte in der Umgebung Bristols einen Schneball durch die Landschaft gerollt und so eine dunkle Spur im Schnee gezogen. Dieses Unternehmen stellte die direkte Vorstufe zu Longs Gerader Linie dar. Und wieder war es eine aus den Erfahrungen der Kindheit inspirierte Idee, die die Grundprinzipien des Schaffens eines Künstlers verdichten sollten.
R.H. Fuchs vergleicht Longs Meisterwerk mit dem berühmten Bild von Malevich, dem Schwarzen Quadrat, das im Schaffen des ukrainsch-russischen Künstlers immer wieder zentrale Bedeutung besessen hat. Beide, die Gerade Linie und das Schwarze Quadrat bestechen durch ihre reduzierte geometrische Form. Sie sind durch die Verknappung auf ein Minimum formaler Charakteristiken geschaffen worden. Gleichzeitig hatte Long mit der Geraden Linie zu einigen Grundprinzipien seiner künftigen Arbeit gefunden. Vom „Verschwinden des Kunstwerks“ war ja weiter oben schon die Rede. Gleichzeitig bewies die Linie aber auch, dass die Skulptur in der Landschaft in Zukunft in direkter Korrelation zur Zeit stehen würde, um diese sichtbar zu machen. Je länger man die Linie begehe, desto sichtbarer wurden die Spuren. Gehen konnte so als Mittel zur Kunstproduktion verwendet werden. „But the fact that it used the real earth, without adding or subtracting other materials, hardly disturbing the ground that was walked on, opened up an enourmous new range of content“, schreibt R.H. Fuchs. Von nun an konnte sich das Werk (und somit der Gang des Künstlers) über unterschiedliche Landschaften erstrecken, sowohl bei Tag als auch Nacht stattfinden, unter verschiedenen Wetterbedingungen und in unterschiedlichen Bewusstseinsstadien des Gehenden. All diese Phänomene der realen Welt konnten nunmehr Teil eines Kunstwerks werden. Die Skulptur wurde zum Teil der Welt und war Ausdruck von ihr: veränderlich und zum Verschwinden bestimmt. Die Erde wurde zum Begleiter des Kunstwerks, so wie sie zum Vergnügen des Kunstschaffenden geworden war.
My first work made by walking, in 1967, was a straight line in a grass field, which was also my own path, going ‘nowhere’. In the subsequent early map works, recording very simple but precise walks on Exmoor and Dartmoor, my intention was to make a new art which was also a new way of walking: walking as art.
Richard Long: A Line Made by Walking.
Gehen als Kunst. Das war die Devise von Richard Long und hatte gerade deswegen meine Aufmerksamkeit sofort in Beschlag genommen, als ich letzte Woche das Kunstmuseum Winterthur besucht habe. Diese nicht-invasive Kunstform, die sich dem Wesen des Menschen in der Natur annähert, ohne sie dauerhaft zu verändern oder in ihr lang anhaltende Spuren zu hinterlassen – das war revolutionär für die westliche Kunstproduktion, hatte aber bereits eine lange Tradition bei vielen indigenen Völkern.
Sie stellt für mich als eine neu entdeckte Art von Umgang mit der Landschaft dar, die sich deutlich von der gigantomanischen und (mit Verlaub) phallisch inspirierten Landart abhebt, die zur gleichen Zeit in den USA entstand. Dort hatte man vor dem Hintergrund der ersten Aufnahmen der Erde aus dem Weltall (Mondlandung 1969) diese erstmals als riesige Projektionsfläche begriffen, in die man sich künstlerisch eintragen konnte: mit Baggern, Lastwägen und anderen Baugeräten umd monumentale Projekte zu schaffen. Die Landschaft war zur riesengrossen Leinwand geworden, in dem sich die grossen Jungs mit dem Geld anderer unsterblich machen wollten. Nichts von der eigenen künstlerischen Produktion durfte da verschwinden da, es schien für die Ewigkeit geschaffen worden zu sein. Glorreich forderte es seine Aufmerksamkeit vom Publikum, die vor Staunen verstummten. Der folgende Trailer des sehenswerten Filmes von James Crum gibt einen ungefähren Eindruck, was mit der von mir behaupteten Gigantomanie gemeint ist: Michael Heizers Double Negative (1969-70) oder Robert Smithsons Spiral Jetty (1970).
So einer war Richard Long nicht. Er sprach mit der Natur, weniger mit seinem Publikum. Phallisch anmutende Kunst war ihm fremd, verhalten war er geradezu, in sich versunken und zurückhaltend, fast schon eine Verneigung vor Mutter Erde, wie sie von manchen feministischen Künstlerinnen später gefeiert wurden. So ging und geht er weiter seinen künstlerischen Weg mit Folgeprojekten wie Halftide (1970), Walking a Line in Peru (1972) oder Five Stones (Island, 1974) und anderen. Aber er blieb nicht dabei und fand schliesslich auch seinen Weg in die Galerien. Doch das sind schon wieder andere Geschichten, die vielleicht an anderer Stelle erzählt werden.
Recherche:
- R.H. Fuchs: Richard Long. Katalog des Guggenheim Museums. New York, 1986
Luzide Ausführungen! Danke, es war viel Neues für mich dabei.
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Ein hübsches Wort: „luzide“. Danke schön!
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