
Oktober, 2021. Seit Tagen wütet im Schneeberggebiet im Süden der Stadt Wien ein riesiger Waldbrand. Es sind unter anderen auch jene Wälder betroffen, in denen das Trinkwasser für Wien gefasst wird. Verzweifelt versucht ein internationales Aufgebot dem Brand Herr zu werden. Das scheint aufgrund der vielen schwelenden Glutnester nicht zu gelingen. Tagelang hoffte man auf Regen, um Hilfestellung durch die Natur, die man doch eigentlich unter Kontrolle zu haben glaubt. Doch der Regen liess tagelang auf sich warten. Erst jetzt, Anfang November scheint sich die Wetterlage zu drehen und der ersehnte Regen ist zu erwarten. Aber helfen tut er letztendlich nicht sehr viel.
Für die Wiener ist der Schneeberg von grosser Bedeutung. Dort befindet sich das Einzugsgebiet des Wiener Trinkwassers, hochgejubelt von der Wiener Stadtverwaltung und Selbstverständlichkeit für alle Wiener. Wasserhahn auf und bestes Hochquellwasser trinken, darauf waren wir in dieser Stadt immer stolz. Welche Grosstadt ist schon in einer derart glücklichen Lage! Aber die Schutzwälder für das Wiener Hochquellwasser sind bedroht. Zwar beteuert der Verantwortliche der Stadt Wien, das die Wasserversorgung der Grossstadt nicht bedroht sei, aber haben wir nicht in der Schule von der positiven Filterfunktion eines funktionierenden Waldbodens auf das Regenwasser gelernt? Man kann nicht ernsthaft leugnen, dass der Waldbrand Auswirkungen auf die Versorgung Wiens mit sauberem Trinkwasser haben wird.
Über den Zusammenhang mit der Klimakatastrophe hören wir von den Medien im Rahmen dieses Grossbrandes nicht allzu oft. Zwar könne man über die Brandursache derzeit nur spekulieren, doch sei wahrscheinlich eine weggeworfene Zigarette schuld daran. Doch bereits mit dieser Interpretation verwechselt man den unmittelbaren Anlass mit der Ursache für derartige Waldbrände. Wir lernen, das sie auch in regenreichen Gebieten und im Herbst wüten können, auch in unseren Breiten. Die allgemeine Austrocknung unserer Wälder und natürlich auch dieses Schutzwaldes sind der Klimakatastrophe geschuldet. So sieht es wenigstens die Wissenschaft: Heisse Sommer, die mit ihrer Trockenheit weit in den Herbst hineinreichen. Und schon ist sie da, die Feuergefahr!
Die Klimakatastrophe hat die Waldbrände des heurigen Jahres auch nach Österreich gebracht. Sie ruft Bilder aus meiner Jugend in mir hoch. Das Rax-Schneeberggebiet war seit Beginn des Bergtourismus im 19. Jahrhundert ein regelmässig besuchtes Wander- und Klettergebiet. Wochenende um Wochenende führen wir entweder mit der Vespa oder mit der Eisenbahn nach Payerbach-Reichenau, um dann über das Grosse und Kleine Höllental in die steilen Riegel des Schneeberges oder die felsigen Klettersteige des Raxgebietes einzusteigen. Viele andere Wiener taten dies gerne auch. Man traf einander immer wieder, war dort zuhause. Das Höllental mit der Weichtalhütte wurde für viele Alpinisten zum verlängerten „Vorzimmer“ der eigenen Studentenbude: ideal in seiner Erreichbarkeit von Wien aus, für die schmalen Taschen leistbar und gerade so viel Abenteuer, wie wir es als verwöhnte StädterInnen vertragen konnten. Und mit der Zeit kannten wir hier jeden Flusslauf, jeden Steilhang, jedes Notbiwack, jede Hütte, jede Höhle und auch jeden Rastplatz. Auch bei Nacht konnten wir uns dort bestens bewegen, weil wir immer wieder verspätet und nächstens ins Tal hinabstiegen: das schulte die Sinne. Es war unsere Heimat, eine Art persönliches Kulturerbe, welches zu unserer Identität und unserem Selbstverständnis gehörte. Wir liebten diese Welt, obwohl wir damals wohl noch nicht zu derartig peinlichen Gefühlsausbrüchen bereit waren.

Dann war da eines Tages die schockierende Beobachtung. Es war im Frühling, unsere erste Tour des neuen Jahres, kurz nach den Winterstürmen, Anfang der 1970er Jahre. Nichts war im Kleinen Höllental geblieben, was einmal gewesen war. Die lange Eisenleiter, die über schrofiges Gelände zu den Einstiegen ins Klettergebiet der Rax führten, war unter gestürzten Bäumen vergraben, der Wald hatte sich durch heftige Windböen des vergangenen Winters „auf die Seite gelegt“, war gesplittert, geborsten, der durch ihn hindurchführende Weg unpassierbar geworden. Nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war und so sehr wir instinktiv die alten, vertrauten Plätze suchten: sie waren unter dem Chaos des Baumbruchs verloren gegangen. Wenn ein Wald fällt, ist er mit seinen Orten für Jahrzehnte, Jahrhunderte und vielleicht auch für die Ewigkeit verloren. Win grosser Verlust und eine schmerzhafte Erfahrung. Nur die Erinnerung bleibt, und diese erlischt langsam aber unerbittlich. Das war ein Vorgeschmack auf heute.
Orte, die man liebt und an denen das Herzblut klebt: an diese soll man nach vielen Jahren Abwesenheit nicht mehr zurückkehren. Die Enttäuschung und Desillusionierung ist zu gross, wenn sich der Ort grundlegend verändert hat und der emotionale „Anker“ für die Erinnerung nicht mehr existiert. Ich weiss daher, dass ich nach den verheerenden Waldbränden des Oktobers meine Erinnerungsorte Payerbach Reichenau, Hirschwang und das Höllental niemals mehr aufsuchen werde. Die Orte meiner Erinnerungen sind zerstört, ein Stück materielles und immaterielles Kultur wurde mir genommen, unvermittelt, unwiederbringlich. Ich werde den Verlust wohl mittelfristig verleugnen, so mir dies nur gelingt. Die Erinnerung ist ein Raub der Flammen geworden.
Doch ich bin auch um eine Erkenntnis reicher. Wenn wir an die Folgen der Klimakatastrophe denken, dann denken wir trotz aller Schrecken nur sehr selten an die für uns erlittenen Verluste, die die Zerstörung mit sich bringt. Und wir reden nicht über den Trauerprozess, der in uns ausgelöst wurde. Das hat mich der jüngste Waldbrand in Niederösterreich gelehrt. Die dabei erlittene Kränkung mag gering sein, und nicht vergleichbar mit dem, was die Menschen dieser Welt allein in diesem Jahr durch die Zerstörung ihrer Heime miterleben mussten. Doch sie ist präsent, ganz unzweifelhaft, erscheint angesichts des globalen Leides wie ein beschämendes Jammern auf hohem Niveau. Solastalgie!
Deshalb war es für mich so erhellend, den Essay im Online-Magazin AEON zu lesen, der sich mit den auf uns zukommenden Verlusten auseinandersetzt: Heritage at Sea. „Müssen wir uns angesichts der Klimakrise ganz einfach mit dem Verlust geliebter Orte abfinden?“, fragt dort der Autor und spricht damit auch den Verlust unserer Erinnerungen an, der so bedrohlich er ist, noch vor uns liegt aber eintreffen wird. Ins Feld führt er den drohenden Untergang ganzer Städte wie Amsterdam, Venedig oder New Orleans. Dieser drohende Verlust materiellen Kulturerbes für die Menschheit, aber auch für die ganz persönliche Erinnerung und Geschichte sei eine unausweichliche Folge der Klimakatastrophe und dem mit ihr verbundenen Ansteigen der Meeresspiegel. Immer wieder habe dieser Verlust an Geschichte aber auch eine zutiefst persönliche Komponente. Um diese Behauptung zu untermauern, zitiert er den niederländischen Historiker Johann Huizinga, der argumentiert hat, dass ihm die persönliche Begegnung mit dem Materiellen Kulturerbe immer wieder einen unmittelbareren Zugang zur Geschichte erschlossen habe. Das war substantiell und viel reicher als bloss über sie zu lesen.
Die zu erwartende chaotische Aufeinanderfolge klimabedingter Katastrophen würden auch dazuführen, dass die Erfahrung von Geschichte einen enorm disruptiven Charakter angenommen habe. Millionen Jahre gewachsene Eismassen fallen mit einem Male unvermittelt ins Meer und lösen sich binnen kürzester Zeit auf – das wäre ein enblematisches Bild für den unerwarteten Verlust, der innerhalb weniger Jahre in Gang gesetzt wird. Jetzt, wo das Verschwinden des historischen Erbes durch Flut und Brand viel stärker und unvermittelter als je zuvor geschehen wird, verdichte sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einen einzelnen Moment. Das gilt auch für Naturmonumente. Die jahrzehntealten Wälder an Schneeberg und Rax, die Teile meiner Geschichte „enthalten“ haben, sind mit einem Mal verschwunden und in die Wüstenei unserer Zukunft übergeführt worden. Die Geschwindigkeit, mit der unsere persönlichen, historischen Bestände sich auflösen, wird sich noch rapid beschleunigen. Denn die Umweltkatastrophe bringt uns nicht nur um Gesundheit, Besitz und Zukunft, sondern kränkt auch unser persönliches Erleben. Auch damit müssen wir wir wohl in Zukunft zurechtkommen und auch darauf sind wir nur sehr schlecht vorbereitet. Was alles wird uns noch genommen werden? Die vielen Selbstverständlichkeiten des Lebens!
Es ist mithin problematisch, dass das, was wir gerade erleben müssen, ein Trauern ist, an das wir uns erst stufenweise gewöhnen müssen. Verleugnung, Wut, Feilschen und Verhandeln, Depression und Akzeptanz sind Teil dieses Prozesses. Wie aber trauert man um ein „Heim“, das der Zerstörung anheim gefallen ist, aber psychologisch weiterhin Bestandteil der eigenen Identität und Geschichte bleibt? Wie trauert man um ein Heim, von welchem man ahnt, das es in naher Zukunft zerstört werden wird, aber gerade noch nicht zerstört ist? Wie trauert man um eine Weltenheimat, von der man weiss, dass sie nicht Bestand haben wird?
Und noch einen anderen wichtigen Hinweis liefert der Artikel, den ich mit steigender Aufmerksamkeit gelesen habe. Angesprochen wird der Begriff der Solastalgie, den erstmals der australische Philosoph Ernst A. Albrecht in seinem Buch Earth Emotions. New words for a New World. 2019 beschrieben hat. Während Nostalgie die sehnsuchtsvolle Hinwendung an das Vergangene bezeichnet, betrifft das Gefühl der Solstalgie die Zukunft. Sie entsteht wenn jemand die Zerstörung der eigenen Heimat bzw. des eigenen Lebensraums miterlebt und dies als belastendes Gefühl erlebt. Es ist die Trauer über den drohenden Verlust, der durch die Folgen der Klimakatastrophe eintreten wird.
Das Buch ist auf meiner Leseliste, denn es scheint vieles zu erhellen, was mir bislang verborgen geblieben ist: was ich zwar verspürt habe, aber nur ungenügend ausdrücken und schon gar nicht systematisieren konnte. Bald gibt es mehr darüber.
Recherche:
- Thisjs Weststeijn: Heritage at Sea. Must we simply accept the loss of beloved buildings and cities to the flodds and rising seas of the climate crisis?
- Ernst A. Albrecht: Earth Emotions. New Words for a New World, 2019.
Solstalgie – dieses Wort kennt nicht einmal das Wörterbuch meines Schreibprogramms. Es ist nun hinzugefügt …
Diesen dumpfen Schmerz erlebe ich bei manchen meiner Freunde, die gerade ihre Keller renovieren und sich dabei überlegen, wie sie das anstellen könnten, falls doch wieder das Wasser kommt. Die wohnen in Straßen, wo noch nie Überschwemmungen waren.
Andere Bewohner sitzen bei Freunden und sind sich unschlüssig, ob sie in ihre Häuser zurückkehren sollen oder doch lieber woanders hinziehen. Nicht ganz so schwer ist es für jene, die zur Miete wohnen. Andere haben Häuser verloren, die schon seit Generationen zur Familie gehören.
Bei ein paar Eigentümern ist schon klar, dass sie an den ursprünglichen Stellen nicht mehr bauen dürfen.
Immerhin ist einiges geplant, so manches ist am Entstehen – neue Schwemmgebiete, Ausweichbecken; und doch – man ist es nicht gewöhnt, dass es etwas Stärkeres gibt, das die Existenz bedrohen könnte.
Das Problem an der Sache: das viele Wasser hat dem Grundwasserspiegel nichts genutzt.
Nachdenkliche Grüße
Sabine
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Ja, das wird nicht nur Nachdnklichkeit sondern auch etwas auslösen, das mit dem erlittenen Verlust und der Erschütterung ihrer Zuversicht zusammenhängt. Einen nachdenklichen Gruss auch Dir und danke für den Kommentar!
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