Huerto Valenziano. Wikimedia Commons

Es gibt Begriffe, die gehen mir einfach auf die Nerven, dazu gehört Capricho (span.) bzw. seine italienische Variante Capriccio. Gemeinhin versteht man darunter künstlerisches Schaffen, welches absichtsvoll und spielerisch die ästhetischen Normen eines Genres verletzt, ohne sie aber in der Tat ausser Kraft zu setzen. Ein bisschen gezündelt mit ästhetischer Kritik wird schon, aber letztendlich doch nicht richtig. Wenn immer man auf sein normverletzendes Verhalten angesprochen wird, kann man sich, mit Rekurs auf das Spielerisch-Künstlerische, aus der Affäre ziehen.

Für derartige Spielereien war ich wohl immer zu ernst, zu „deutsch“, zu alt. Mach dich locker, Alter! hätte man mir wohl zu sagen gewusst. Die Laune, die Schrulle, die Marotte, denn das ist im Wesentlichen die Bedeutung von Capricho auf Deutsch, ist für mich eine illegitime Ersatzhandlung für Haltung, Überzeugung und Protest. Der spanische Jugendstilkünstler Antonio Gaudi 1885 hat so ein Capricho gebaut, die Villa Quijano, die das Launenhafte und Unernste repräsentiert und deshalb auch so genannt wird. Ein wenig Arabesken, ein wenig florale Ornamentik, ein glänzender Zwiebelturm und Musik an Schiebefenstern – all das nichts Ernsthaftes und wahrlich keine ernstzunehmende Gegenposition zur Architektur ihrer Zeit. Eine Laune, die Marotte eines Sommerhäuschen eben. Wer möchte dort wohl wohnen, ausser kunstbeflissene TouristInnen mit schlechtem Geschmack?

Villa Quijano, „El Capricho“, Wikimedia Commons

Sommerfrische ist das Stichwort und treibt die Absicht meiner Worte voran. Vor kurzem hat ein Blogger auf WordPress auf das Buch von Beat Sterchi: Capricho. Ein Sommer in einem Garten (Diogenes Verlag, 2021) hingewiesen. Es war für ihn ein trauriger Anlass, der ihn das Buch erwähnen liess: offenbar hielt es viel Tröstendes für ihn bereit. Ich hatte mir deshalb ein ernsthaftes und nachdenkliches Buch erwartet, es mir letztendlich angeschafft und erwartungsvoll zu lesen begonnen. Meine Erwartungen waren falsch. Was sich mir eröffmete, war ein gut geschriebene und launige Geschichte ohne den für ein gutes Stück Literatur notwendigen Ernst.

Zum Inhalt: Ein schweizer Schriftsteller verbringt den Sommer in seinem Ferienhaus in einem kleinen, von Abwanderung betroffenen Dorf in Südspanien, um dort die Geschichte des Ortes zu schreiben. Allerdings will die Arbeit nicht so richtig vorangehen, eine Schreibblockade macht sich offenbar breit, die auch mit der zweiten Haupttätigkeit dieses Sommers zusammenhängt: der Pflege eines steinigen Gartens („huerto“). Dieses ehemalige landwirtschaftliche Fläche, heute bereits stark verwildert, zieht ihn in seinen Bann: 12 Reihen Kartoffeln will der Schriftsteller pflanzen, daneben auch anderes Gemüse, ebenso steht die Reparatur des Bewässerungssystems an. Der ungeschickte Gärtner notiert alles unentwegt, was seinen huerto betrifft: die Arbeitsprozesse, den Fortschritt und die Rückschläge in seinem Garten rücken in den Vordergrund anstatt die Arbeit an der Dorfgeschichte. Die Arbeit im huerto ist offenbar wichtiger: das rechtzeitige Pflanzen, das effiziente Bewässern, unentwegtes Jäten, die magere Ernte, katastrophale Gewitter und lästiger Tierfrass. Die Fresslust der Steinböcke ist eine ständige Gehahr, am Horizont kreisen die Geier. Ferne Gewitter verbreiten Schrecken. An der Steinmauer tauchen immer wieder DorfbewohnerInnen auf, die dem Fremden mit freundlicher Neugier begegnen. So verbringt er den Tag: abgebrochene Schreibversuche, Gärtnerarbeit, Anschaffungen in der nahegelegenen Stadt, Lektüre spanischer Autoren (darunter Orwells Buch über den Spanischen Bürgerkrieg) und die Begegnung mit den Dorfbewohnern, die dem intellektuellen Gärtner mit Neugier und leisem Spott begegnen. Auch Frau und Tochter besuchen ihn in seinem Ferienhaus. Ansonsten wenig Abwechslung! Zur Unterlegung des Lokalkolorits dürfen die DorfbewohnerInnen auch Spanisch sprechen, nur kurze Sätze allerdings, damit der Fluss des Lesens nicht allzusehr gestört wird. Alles wird zum bukolischen Spiel, weniger im existentialistischen Sinn, als aus Lust und Laune eines Literaten, der zu arbeiten vorgibt, aber doch nur Entspannung sucht: einen Sommer lang.

Mich hat das Buch auf den ersten Blick an ein anderes erinnert, an jenes des kroatischen Autors Ivica Prtenjaca: Der Berg (Folio Verlag, 2020). Darin begeben wir uns in ein existentielles Drama nach einer Scheidung. Ein frustrierter Mitarbeiter eines Museums wird gekündigt und zieht sich, angeekelt von Kulturbetrieb und Privatleben, einen Sommer lang auf eine Insel in der Adria zurück, um dort auf einem Berg in einem schäbigen Unterstand Feuerwache zu halten. In all dieser Einsamkeit wird er von einem altersschwachen Esel begleitet, der mit ihm auf den Kontrollgängen unterwegs ist und letztendlich vor seinen Augen einen quälenden Tod stirbt. Auch hier wieder die Begegnungen mit den Dorfbewohnern, doch verkommen die Menschen nicht wie bei Sterchlin zu schrulligem Inventar, sondern haben durchaus Schicksale, die tief im Krieg auf dem Balkan verwoben sind. Krieg ist hier nicht historischer Befund, sondern ernste und bedrohliche Gegenwart. Der Tod eines Menschen und der Tod eines Tieres: auch dies verstärkt den existentialistischen Zug dieses Stücks südosteuropäischer Literatur. Was als Flucht eines Intellektuellen aus der Stadt in die Einsamkeit eines Feuerwächters begonnen hat, wird als eine intensive Auseinandersetzung mit den Absurditäten aber auch der tiefen Ernsthaftigkeit des Lebens enden. Kein Capricho also, keine sommerliche Laune: sondern ein Stück Arbeit an den Absurditäten modernen Lebens. Dazu gehören auch Begegnungen mit Esoterikern, Touristen und Ausflüglern, die die Einsamkeit des Flüchtenden stören. Der Esel verendet, ein Hund läuft zu. Ein wenig klüger kehrt der Kulturarbeiter nach drei Monaten Auszeit in die Stadt zurück.

Die Flucht vor dem Alltag in die Sensation einer Auszeit kann also auf unterschiedliche Art dargestellt werden: als geschmäcklerische Anmassung in der Rolle eines Pseudogärtners oder als einsame Groll und Auseinandersetzung mit dem Leben an einem ausgesetzten, vielleicht auch gefährlichen Ort. Der Sommer kann wohl zu Beidem dienen: Zu lustvoller Tändelei mit dem Leben oder zum Ringen mit seinen Fährnissen. Was einem mehr behagt, ist wohl letzten Endes eine Sache der Lebenseinstellung. Brilliant geschrieben sind beide Bücher, kurzweilig ebenso.

Wie werden Sie den nächsten Sommer verbringen? Vielleicht auch am Mittelmeer, um den beiden Ich-Erzählern nachzuspüren? Oder verbittert diese Pseudofreiheit verweigernd in der Grosstadt, in der uns die Grosswetterlage gerade Regen und schon wieder ein Capriccio beschert hat:

Capriccio.

So will ich sterben:
Dunkel ist es. Und es hat geregnet.
Und du spürst nicht mehr den Druck der Wolken,
Die da hinten noch den Himmel hüllen
In sanftem Sammet

Alle Straßen fließen, schwarze Spiegel,
An den Häuserhaufen, wo Laternen,
Perlenschnüre, leuchtend hängen.
Und hoch oben fliegen tausend Sterne,
Silberne Insekten, um den Mond –
Ich bin inmitten. Irgendwo. Und blicke
Versunken und sehr ernsthaft, etwas blöde,
Doch ziemlich überlegen auf die raffinierten,
Himmelblauen Beine einer Dame,
Während mich ein Auto so zerschneidet,
Daß mein Kopf wie eine rote Murmel
Ihr zu Füßen rollt …

Sie ist erstaunt. Und schimpft dezent. Und stößt ihn
Hochmütig mit dem zierlich hohen Absatz
Ihres Schuhchens
In den Rinnstein –

Alfred Lichtenstein (1889-1914): Capriccio,

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