
Seit Beginn der Pandemie führe ich ein COVID19 – Tagebuch auf meinem Zweitblog tinderness. Ich habe in letzter Zeit nur sporadisch darin geschrieben, die letzte Eintragung liegt Monate zurück und trägt den Untertitel Die Thurgauer Mutation. Das Tagebuch nannte ich Die Stille der Tage, ein Ausdruck für die Stille, die wir im Ersten Lockdown alle erfahren konnten. Damals hielt die europäische Welt den Atem an, als sie die Leichentransporte in Bergamo mitansehen musste und nichts mehr so war wie zuvor. Man hätte meinen können, dass die Zeit der Stille Möglichkeiten eröffnet hätte, um über die notwendige Veränderung des eigenen Lebens nachzudenken und die Fähigkeit zur Krisenbewältigung zu erproben. Mit Krisen umgehen zu lernen, Resilienz und Zukunftsgerichtetheit aufzubauen, einen neuen Aufbruch zu schaffen – das alles wären Chancen gewesen, Potential aufzubauen, um auch der Klimakatastrophe effektiv begegnen zu können. Und auch die Regierung hätte lernen können, das Gesamtinteresse über den eigenen Machterhalt zu stellen. Nichts davon geschah.
Heute am Vorabend des vierten und selbstverschuldeten Lockdowns in Österreich ist diese Stille ungenutzt verstrichen und dem Geschrei der Gosse gewichen. Das hysterische Hecheln einer politischen Partei und ihres Führers befeuert die Spaltung Österreichs in einen rational und verantwortungsvoll agierenden Teil und einer immer lauter werdenden Meute aus staatsfeindlich Rechtsradikalen, strammen FPÖ-Gefolgsleuten und Schwurblern aller Coleur. Dazwischen wabbert die lethargische Masse jener, denen eh „alles Wurscht“ ist und die sich in ihrem dumpfen Egoismus völlig von der Solidarität zu ihren MitbürgerInnen entfernt haben. Die Impfunwilligkeit breiter Bevölkerungskreise trägt grosse Mitschuld an dem katastrophalen Zustand dieses Landes, an der unerträglichen Arbeitssituation des Krankenhauspersonals und am Tod vieler Menschen. Zudem bindet sie in grossem Ausmass jene Energie, die wir zum Umgang mit der Klimakatastrophe dringend nötig hätten. Eine gar nicht so kleine Minderheit gängelt dieses Land, seine Gesundheitssystem und seine Demokratie mit Berufung auf ihre „freie“ Entscheidung. Auch im eigenen Bekanntenkreis findet sich diese Misere: die Eine verschleppt die Impfung, weil sie sich vor einem Stich fürchtet, die Andere lehnt sie ab, weil sie besessen ist von der Unversehrtheit ihres eigenen Körpers, der Dritte findet die Impfung nicht notwendig, weil er von seiner strotzenden Jugendlichkeit verblendet ist, die Vierte befürchtet Auswirkungen auf ihre Empfängnisfähigkeit. Sie alle eint das Misstrauen auf die Wissenschaft und ein Egoismus, der einer solidarischen Gesellschaft nicht zuträglich ist. Das Ego wird vor sich hergetragen wie eine Monstranz: sie ist inzwischen zu einer Monstranz des Todes geworden.
Das alles sind Phänomene, die zwar in anderen Ländern auch zu finden sind, aber in Österreich zu einem Paradebeispiel an Verhetzung, Dummheit und Egozentrismus geführt hat, die seinesgleichen sucht. Vom einst (mit politischem Kalkül) behaupteten Vorbild in der Pandemiebekämpfung ist Österreich in einen Krisenzustand getaumelt, welcher uns als europäisches Schlusslicht in der Pandemiebekämpfung sieht. Das Pandemiemanagement hat in Österreich komplett versagt und die unentwegten und platten Appelle einer unfähigen Regierung an die Eigenverantwortung der Staatsbürger wirkt wie ein schlechter Witz.
Wer hat Schuld? Natürlich die österreichische Bundesregierung, eine enthemmte FPÖ und natürlich der Föderalismus, in dem Landeshauptleute ihr eigenes politisches Süppchen kochen dürfen auf Kosten der Gesundheit der Bevölkerung. Rechtspopulismus aller Orten, in erstaunlich vielschichtigen Varianten, von staatsmännisch gefärbt bis darwinistisch ausgerichtet zu rechtsradikal unverschämt. Die Rattenfänger sind wieder unterwegs und destabilisieren das Land und die Demokratie. Die meisten Politiker starren wie das Kaninchen auf die Schlange: auf die vermutete Stimmungslage der Wirtschaft, auf das Begehren eines abgehalfterten und zur Seite getretenen Ex-Kanzlers, auf das Geschrei des Pöbels auf den Strassen. Wertvolle Zeit für den Kampf gegen die Pandemie wurde verloren, weil niemand Leadership zu zeigen wagte, um die Gesundheitskrise zu bewältigen, um wirksame Massnahmen zu setzen, um die notwendige Infrastruktur aufzubauen. Ich muss das nicht näher ausführen: wir alle kennen die empörenden Verdrehungen von Entscheidungsträgern. Wir alle kennen das hilflose Stammeln der grünen Gesundheitsminister. Wir alle kennen die Lügen und Hetzereien der rechtsradikalen Oppositionspolitiker a la Kickl. Da wirkt der rote Kaiser aus Wien wie ein Phönix aus der Asche, nur weil er das tut, wofür ihn die Bevölkerung auch gewählt hat: die Stadt für seine Bürger ordnungsgemäss zu verwalten. Dazu sind andere nicht im Entferntesten imstande. Was der Standard sein sollte ist fast schon Top-Performance geworden.
Das Bild, das die Politik bietet, ist so verheerend wie noch nie in dieser Zweiten Republik: da wird die Realität verbogen und gelogen, dass sich die Balken biegen, da wird auf die Dummheit und Dumpfheit der Bevölkerung gebaut, da wird schwerfällig auf Eiern getanzt, anstatt die fauligen Dinger aus dem Weg zu räumen. Man taumelt von einer Regierungskrise in die andere, korrumpiert und unbedarft. Pressekonferenzen gibt es hingegen sonder Zahl und nichts passiert. Unter dem Vorwand der Information der Bevölkerung manipuliert man sie, bietet aber selbst ein Schauspiel der Unfähigkeit. Leadership wird gefaked, politische Zögerlichkeit macht sich selbst lächerlich, mit aktuellen oder prognostizierte Zahlen aus den Pandemieberaterstäben wird hin und herjongliert für den eigenen Machterhalt. Man schämt sich, Staatsbürger eines Landes mit derartigen Figuren und Attituden zu sein. Eine Bananenrepublik eben, ein Kasperltheater, ein Korruptionssumpf, ein Land von Möchtegerns und VerdrängungsmeisterInnen. Ja, wir sind tatsächlich so, Herr Bundespräsident! Die Lethargie, die Dummheit, der Egozentrismus und die Verantwortungslosigkeit zieht sich durch alle Bevölkerungsgruppen. Die Spitze des Eisberges zeigt sich in der aktuellen Politik. Rationalität und Solidarität, Empathie und Mut sind rar geworden. Die Meute auf der Strasse gibt den Ton anund beleidigt alle Menschen, die Anstand und Verantwortungsgefühl besitzen.
Die Bundesregierung ist wieder einmal grandios gescheitert und manchmal denke ich, auch dieses Land und seine Bevölkerung sind gescheitert. Kein grandioses Scheitern, sondern ein mittelmässiges, ein Scheitern an der eigenen Schlamperei, Inkompetenz und Feigheit. Die Staatskrise ist perfekt.
Und wie siehts aus in der Schweiz? Fast zeitgleich hat Froggblog eine recht interessante Einschätzung über das entsprechende Chaos in der Schweiz geschrieben. Einfach lesen!
Als würden A, CH und D sich einen Wettbewerb liefern – wir hier „können“ das genau so! Derweil blicken die nichtdeutschsprachigen Nachbarländer – egal, wie ihre Inzidenzen liegen – fassungslos auf uns Drei …
On Top: Einen Tag NACH des Bund- Länder-Gesprächs in D über das Einfangen der Situation entblödet sich der noch-Bundesgesundheitsminister, ex-Banklehrling Spahn, nicht, den akzeptiertesten Impfstoff BionTech im Angebot zu reduzieren – hatte er tags zuvor wohl nicht gewusst – / für sich allein beschlossen!?
(Wir fragten uns ohnehin die ganze Zeit, was der (und der bayerische Puper Söder) weiss – wie man erforderliches Handeln umsetzt, jedenfalls nicht.)
Nun warten wir, ob die neue Regierung zusammenkommt, wie sie es versucht – und wie sie sich im Fortgang der Pandemie schlägt.
Allerdings, wie hier im Blog geschildert, sind wir, Bevölkerung, die wesentlichen Akteure. So lange ein mehrere 10er Prozent-Anteil sich verhält wie blöd, kann die Situation noch lange dauern.
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Dasselbe in der Schweiz – Du hast es ja schon gesehen. Beängstigend: Wie die Recht aus der Krise Kapital schlägt. Schrecklich.
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