Johannes Seluner (1828? – 1898), Public Domain

Mehrmals bin ich wegen eines Artikels über Johannes Seluner auf meinem Vorgängerblog tinderness.blog per Email angeschrieben worden, und jedesmal habe ich mich sehr darüber gefreut. Als die Autorin des Buches über den Seluner, die mittlerweile leider verstorbene Rhea Brändle, mich das erste Mal 2014 kontaktierte, sprach sie mich auf meinen damaligen Wikipedia-Eintrag an, den sie gerne auch einer der Neuauflage ihres Buches erwähnen wollte. Ich hatte mit Hilfe ihres Buches und anderer Quellen viel Arbeit darauf verwendet, dem von seiner Umwelt so schändlich behandelten Mann ein wenig Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Und eine Neuauflage des Buches war 15 Jahre nach Erscheinen der Erstauflage 1990 notwendig geworden. Frau Brändle und ich standen von da an in mehr oder weniger regelmässigem Email-Kontakt, leider ist es zu einem persönlichen Treffen zwischen uns beiden aber nie gekommen.

Kürzlich bekam ich Post von dem Saiten-Redakteur Roman Hertler, der mich in einem (am 22. September 2021 erschienenen) Artikel mit dem Titel „Selig, unseliger Seluner“ zitieren wollte. Dem habe ich gerne zugestimmt und mich gefreut, dass in der Beurteilung von Johannes Seluner mit der Zeit doch einiges in Bewegung geraten war. Zumindest hatte ihm die Nachwelt ein Grab zugestanden, er wurde am 9. September 2021, also 123 Jahre (sic!!) nach seinem Tod am Friedhof in Nesslau begraben. Seine sterblichen Überreste waren ja bisher im Anthropologischen Institut in Zürich gelagert worden, ein Relikt aus unseligen Zeiten, als man noch der Eugenik huldigte und es mit der Menschenwürde armer und entrechteter Menschen nicht sehr genau nahm. Doch all das ist ja im oz. Kulturmagazin Saiten nachzulesen.

Dies alles hat mich bewogen, meinen Artikel aus dem Jahr 2014 hier erneut zu veröffentlichen. Ich habe ihn behutsam redigiert und hoffe, Sie lesen ihn mit Gewinn. Er gehört einfach auf mein Mostindien Blog, der Seluner!


Die Geschichte von Johannes Seluner: (nicht) neu erzählt,
Erstveröffentlichung am 29. August 2014 auf tinderness.blog

Vergriffen ist das Buch offenbar und das ist sehr schade. Ich selbst habe nur mehr ein Restexemplar erstehen können. Rea Brändle hat im Jahr 1990 im Schweizer Limmat Verlag ein Buch veröffentlicht (Johannes Seluner. Findling. Zürich, 1990), das sich mit einem Toggenburger Findling beschäftigt, welcher im Jahr 1844 auf der Seluner Alp als Jugendlicher aufgegriffen worden war.  Die Geschichte des Mannes  fand Eingang in die Geschichten, welche in der Ostschweiz erzählt werden, wenn von der Heimat die Rede ist.  Nicht sehr hilfreich ist in diesem Falle, seinem Impuls zu folgen und den Namen Johannes Selurner in eine Suchmaschine einzugeben, um damit mehr über ihn zu erfahren, denn Sie werden zwar mehr die Phantasmagorien all jener erfahren, die sich mit ihm beschäftigt haben, wenig jedoch über den Mann selbst. Selbst die AutorInnen auf Wikipedia schludern hier hilf- und verantwortungslos dahin, indem sie Dinge über die Biographie des Johannes Selurner behaupten, die selbst nur Fantasien anderer und im Grunde menschenverachtendes Gerede sind.

„Er gab nur urtümliche Laute von sich, zerriss die neuen Kleider, die man ihm gab und schlief am liebsten auf einem Heulager. Aufgrund der guten Behandlung wurde er zutraulicher, verlebte jedoch den Tag am liebsten allein irgendwo auf einem Stein sitzend. Stundenlang konnte er am Ufer der Thur sitzen und den Fischen zuschauen. Die Metallknöpfe seiner Jacke gefielen ihm so gut, dass er nicht genug von den glitzernden Dingen haben konnte. Eine besondere Vorliebe zeigte der Seluner, wie er überall genannt wurde, für Süssigkeiten und Obst. War er zufrieden, schnurrte er; geriet aber rasch in Zorn, wenn er von der Dorfjugend geneckt wurde.“

Wikipedia-Version vom 29.8.2014

Kann man, darf man  so über Menschen schreiben? Rea Brändle, die sich mit den Zeugnissen über den Mann ausgiebig beschäftigt hat, meint zu derartigen Geschichten auf S. 77 ihres Buches:

„Unentwegt war Johannes Seluner irgendwelchen Phantasien ausgesetzt, sein ganzes Leben war dominiert von fremden Bildern. Milchdiebstähle wurden ihm angedichtet, Bärenkräfte und eine noble Herkunft. Als Attraktion wurde er bis in seine alten Tage dargestellt, als billiges Sonntagsvergnügen. Das war spannend, spannender jedenfalls als das Leben eines kommunalen Armenhäuslers  mit einer endlosen Reihe von Tagen, Jahren und Jahrzehnten, für die sich weder die Autoren noch ihre Leserschaft sonderlich interessierten. Die Alltage konnten ihnen gestohlen bleiben , begreiflich, davon hatten sie selber genug.“

Alp Selun, um 1910. Aufnahme und Verlag von Reinhold Bürgi, Nesslau.

Dem derart missbrauchten Mann hat die Autorin in ihrem Buch seine Menschenwürde wiedergegeben und ist ihm und seinem Schicksal endlich (!) gerecht geworden – aber: so gut es eben nur ging, denn die Faktenlage über sein Leben ist dünn. In diesem Sinne ist das Buch eben weniger eine Annäherung an ein Menschenschicksal aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, als vielmehr ein brillianter Versuch über die Intentionen jener, die über ihn bis heute berichtet haben. Dafür muss man sich bei ihr bedanken. Besorgen Sie sich das Buch, auf welchem Weg auch immer – denn Sie werden viel bis heute Gültiges über den Umgang mit Ausgegrenzten lernen, und auch viel über Praxis, Fallen und Mühen schriftstellerischer Redlichkeit.

Rea Brändle weist in dem schmalen Bändchen mit unaufgeregten Worten nach, wie sehr an eine recht dürftige Faktenlage die Bedürfnisse einer Gesellschaft angereichert werden, die mit dem „Fremden“ nicht umzugehen wußte und weiss. Sie erzählt nicht die vielen Geschichten des Johannes Seluner, sondern die vielen Geschichten der Geschichtenerzähler, die vor sich hinfabulieren. Und sie weist auch nach, wie sehr das Leben des Johannes Seluner an die jeweiligen gesellschaftlichen Diskurse angepaßt wurden, etwa daran, wie seine Geschichte mit der Entdeckung der Wildmannlishöhle fälschlicherweise verknüpft wurde, oder wie sehr auch er, wenn auch post mortem, Gegenstand des Rassenwahns des 20. Jahrhunderts wurde.

Hier sitze ich also und fühle mich beschämt. Ich selbst habe bin durch Zufall auf irgendeine der vielen vermeintlichen Augenzeugenberichte über Johannes Seluner gestoßen und war fasziniert darüber, dass er angeblich dabei beobachtet worden war, wie er stundenlang am Ufer der Thur gesessen war, um dabei unbeirrt in die Wellen zu blicken. Daß er in der Wildmannlishöhle gewohnt hätte, dass er ein sgn. Wolfskind gewesen sein soll. Ein willkommener Anlaß für mich, auf den die Natur so starke Anziehungskraft ausübt, dem Johannes Seluner besondere Naturnähe, ja fast schon spirituelle Einsicht zuzuschreiben. Johannes Seluner, eine Projektionsfläche, auch bei mir. Vielleicht sollte ich als Widergutmachung die Wikipedia Biographie auf die Faktenlage reduzieren. Es gibt viel zu tun: bei ihm und all den anderen, die Opfer der Fabulierlust einer im Grunde gnadenlosen Gesellschaft wurden.

Post skriptum:

Also hab ich mich doch hingesetzt und mein vor wenigen Tagen auf diesem Blog gegebenes Versprechen eingelöst. Gut so. Es ist fast ein kathartischer Akt, eine auf Fakten beruhende Lebensgeschichte des Johannes Seluner zu verfassen und ihn damit ein wenig Recht zurückzugeben, das er in den bürokratischen Mühlen und Fantasien der Geschichtenerzähler des Toggenburgs verloren hat. Die Biographie wird dürr, denn mehr an Fakten ist nicht vorhanden. Alles andere ist Fantasie, zum Teil menschenverachtender Natur. Ich stelle den unten folgenden Text mit einigen kleinen redaktionellen Ergänzungen heute auf Wikipedia ein. Ich gehe davon aus, dass sich im Laufe der Zeit dort wieder Phantasien einschleichen werden.