Uckermark, Brandenburg. Wikimedia Commons

Pandemie, Lockdown, Klimakrise, Rechtsextremismus – das alles sind Dinge, die wir tagtäglich erleben und in unser psychischen Erleben integrieren müssen. Das gelingt der Einen besser als dem Anderen. Es kommt auf die Verhältnisse an, in der wir jeweils leben. Wir alle wissen von den schlechten Zeiten ein Lied zu singen und sind uns selbst darin nicht einig. Gerne verfeinden wir uns über die Beurteilung der vertrackten Zeiten, in denen die Einen mehr schlecht als die Anderen recht leben.
Karl Marx hat den schönen und klugen Satz gesagt: Das Sein bestimmt das Bewusstsein, was meint, dass die unsere materielle Lebensgrundlage, das Bewusstsein bestimmt, mit der wir diese Welt sehen und beurteilen. Dabei wird klar, dass wir die unterschiedlichen Bilder, die wir in diesen Zeiten entwerfen, wohl in grossem Masse unserer soziokulturellen Herkunft verdanken. Über DEN Menschen zu reden ist also eine Falle, in die viele tappen. Und dass das Landleben die Läuterung bringen wird, ist eine weitere Selbsttäuschung.

In die Falle der Befindlichkeitsliteratur tappt auch Juli Zeh mit ihrem jüngsten Roman namens „Über Menschen“ (Luchterhand 2021). Wenn sie sich also vorgenommen hat, über Menschen zu schreiben, die sich den obengenannten Krisenerscheinung unserer jüngsten Gegenwart stellen müssen, so beschreibt sie keine allgemeingültiges Verhalten, sondern die Befindlichkeiten der hippen Grosstadt-Mittelschicht. Und das macht diesen Roman mehr als problematisch. Indem er so tut, als erzähle er über „den“ Menschen beschreibt er tatsächlich die Befindlichkeit einer kleinen, gut aufgestellten Menschin aus Berlin, die sich zwischen Sinnsuche und Alltagsbewältigung mächtig ins Zeug legt. Frau kauft sich nach unausgesprochener Trennung von ihrem Partner ein Häuschen in der Provinz, um dort ein wenig Abstand von Klimakrise und Pandemietreiben rund um den ersten Lockdown zu bekommen. Hier soll die Läuterung erfolgen, in aller selbstgewählter Einfachheit. Eine Auszeit nehmen, heisst das im Jargon der Wohlstandsverwöhnten. Alles ist anders als in Berlin und in all dem Fremdeln am naziverseuchten dumben Ort versucht Frau Dora sich als Gärtnerin. Die Landbevölkerung ist dabei hilfsbereit. Das Leben plätschert so dahin, Home Office herrscht, Mobilität ist unterbunden, Seite um Seite, Tag um Tag, Betrachtung um Betrachtung langweilt sie uns mit Betrachtungen, die wir ohnehin schon kennen.

Mehr als 200 Seiten braucht die Autorin, um zum Punkt zu kommen, um den Knoten der Erzählung so weit zu schürzen, damit wir endlich wissen, worum es im Roman dramatisch gehen mag. Juli Zeh tappt dabei gleich ins nächste Klischee: in das von der faschistischen Provinz. Der Nachbar, der Nazi vom Dorf, wie er sich selbst mit Stolz nennt, kuckt mit Brutalo-Charme über die Gartenmauer und feiert mit seinen rechtsextremen Kameraden lautstarke Gartenparties. Seine Tochter verwahrlost nebenan, wäre da nicht der hässliche Hund der Ich-Erzählerin, der Liebe und Zuneigung spendet. Der Nazi aber kuckt dumm über die Mauer und droht, den Hund platt zu machen. Gerade in diesen „Anti-Helden“ darf sich die sensible Werbetexterin Dora auf eine sehr verquere Weise vergucken: so spielt also das Leben! Damit wir aber auch begreifen, worum es nach 220? Seiten gehen soll, benennt in einem eigens dafür konstruierten Kapitel mit Titel „ÜBER MENSCHEN“ (sic!) – die Dramaturgie der kommenden Seiten:

Heute sitzt ihr am Camping-tisch. Hinter euch der Bauwagen, vor euch ein warmes Bier. Ihr raucht polnische Zigaretten, salutiert vor der Reichsflagge und malt eure eigenen Personalausweise. Übermenschen im Unterhemd.

Juli Zeh: Über Menschen. 2021

Dagegen tritt sie an, die Werbetexterin Dora, aber nicht im politischen Kampf, sondern mit all ihrer verfügbaren Empfindsamkeit. Sie fragt sich: „Darf man so reden?“

Damit wären die Kontrapositionen definiert: da die linksliberale Werbetexterin aus Berlin mit Hund, dort der dem Untergang geweihte Neonazi mit verwahrloster Tochter: hie Mittelstandskultur, dort Unterschichtkultur. Brückenbauen ist daher angesagt, damit aus dem lädierten und vernachlässigten Land auch gefühlsbereite Mittelstandsoase werden kann. Zumindest wohl fühlen soll man sich dort können. Darauf hat der Mittelstand wohl Anspruch. Deshalb menschelt es auch gewaltig und insbesondere zwischen beiden Protagonisten: manche verwechseln das mit Menschenrechten. Man hört es geradezu knistern. Das Land erfüllt sich mit dem Geist des linksliberaler Unentschlossenheit, ein behütetes Leben wird rege, eine höhere Tochter, welche vom Jaguar fahrenden Vater bürgerlich massvoll unterstützt wird. Kein Anlass zur Sorge, alles nur vorübergehend! Die Klischees füllen das Buch unweigerlich, Seite für Seite, da hat die Autorin kein Erbarmen mit uns.

Um nicht das Spoilern zu bedienen nur noch vier Sätze über das Melodram aus Berlin und Umgebung. Die Ich-Erzählerin lernt, dass sie wie alle hier NUR ein Mensch ist, besser gesagt: TROTZDEM ein Mensch ist. Ach, welch Erkenntnis! Hätte man das nicht gleich sagen können? Wir hätten uns Lesezeit und damit auch Lebenszeit erspart. Much Ado about Nothing on the Country Side.

Juli Zehs neues Buch ist ein Ärgernis, weil es die Intelligenz seiner LeserInnen sträflich unterschätzt: eben jener Gruppe, die zu bedienen sie sich bemüht. Da haben wir sie wieder, die Verdorfung der Literatur, in der man sich ums Menscheln so richtig bemühen muss, um erfolgreich zu sein.