Screenshot aus Georg Stefan Trollers Film: Peter Handke in Paris. 1975.

Drei Jahre lang pendelte ich zur Arbeit, vom Südosten der Stadt, dem alten Arbeiterviertel bei Nation in den Nordwesten von Paris, nach La Défense, dem (gar nicht mehr so neuen) technokratischen Machtzentrum. Im 23. Stockwerk des Towers, welcher damals einem deutschen Konsortium gehörte und der vorübergehend einige Büros der OECD beheimatete, arbeitete ich, mit Blick auf die Av. Charles de Gaulle und den Arc de Triomphe sowie auf die weit über den Horizont sich erstreckende Stadt. Es war eine merkwürdige Zeit. Ich glaubte, mich hier auf der Höhe der Zeit und meiner Karriere zu befinden, war allerdings in Wirklichkeit nur gefangen in einer Blase aus Selbstgefälligkeit und Verblendung. Mein Arbeitsplatz befand sich dabei mitten in dieser Landschaft der Gespenstischen Formen, von denen Peter Handke gesprochen hat.

Wir verständigten uns im Büro meist auf Englisch, was merkwürdig war: in einem Land zu arbeiten, dessen Sprache man mehr schlecht als recht sprach und die man beruflich nicht wirklich brauchte: man war ja ständig in der Weltgeschichte unterwegs, in La Défense befand sich nur ein Basislager der Eitelkeiten. Wir rechneten uns einer Elite zu und nahmen finanziell, intellektuell wie moralisch alle Ausnahmeregelungen für uns in Anspruch. Eine eigene Welt wurde uns zu Füssen gelegt und eigentlich wussten wir nicht, warum uns plötzlich diese Ehre zukam. Wir lebten gut in dieser Blase. Paris war auch das Zentrum unserer Flugreisen Erster Klasse. Wir trugen die Bedeutung vor uns her, in unseren gutgeschnittenen Anzügen und den gelangweilten Aufenthalten in hochpreisigen Hotels. Die Welt brauchte uns, sie hörte uns zu, ja fürchtete uns. Die eigene beruftliche Arroganz verdoppelte und verdreifachte sich in dieser überheblichen Stadt und vor allem in diesem protzigen Stadtviertel aus Beton und Glas. Eine Stadt in der Stadt, die noch immer davon träumte eine Metropole mit intellektuellem und kulturellem Führungsanspruch zu sein. Postkolonialismus einfach, vermischt mit Turbokapitalismus! Hoch oben über der Stadt sass ich also in einem Elfenmbeinturm und träumte den Traum von der Macht am zweckmässigen Schreibtisch. Ein phallischer Stolz erfüllte mich, unschlüssig in der phallischen Geometrie sitzend!

Letzte Woche sah ich anlässlich des 100. Geburtstages von Georg Stefan Troller seinen Film über Peter Handke, der mich zurückführte in jene Zeit des selbstgefälligen Träumens. Handke plaudert dabei in der ihm eigenen Art drollig versnobt daher und verschmolz beim Interview tagträumend mit der Silhouette von La Defense. Wir schreiben das Jahr 1975, noch ist das neue Stadtviertel jung und stark und beeindruckend, der baulich und moralische Verfall hat noch nicht begonnen. Noch bröckelt kein Beton, noch springen weisse Marmorplatten. Allerorten wird an der Hybris gebaut, die Baukräne reckten sich keck gegen den Himmel.

(Sprecher aus dem Off): Von Paris kennt Handke so gut wie nichts. Die Altstadt, das Quartier Latin, empfindet er als Versuchung zum Selbstbetrug. Die Wahrheit ist hier, im neuen Défense-Viertel.
(Peter Handke): Ja, ich fühle mich dummerweise auf perverse Art wohl hier. Und zwar, weil die Welt sich mir hier darstellt, wie sie ist und nicht mit diesen pittoresken Verschnörkelungen, die in den alten Quartieren sich zeigt. Es ist schon eine Seelenlandschaft hier. Ja, ich glaube, dass das Innere hier dem Ausseren entspricht. Das Innere der Leute, die heutzutage existieren, entspricht auch der Geometrie des äusseren Anblicks.
(Handke zeigt auf die drei Bürotürme im Hintergrund und setzt fort):
Es ist ja alles hier so theatralisch, sehen Sie, aber ich glaube schon, dass es so ist, auch im Inneren. (…) Dass hier (spezielle) Grassorten (aus aller Welt) angepflanzt werden, die (entsprechend) sortiert werden. An dieser Stelle ist das Gras, an dieser Stelle wird versucht, das Gras als zweite Natur zu kreieren. Ich hab ja selber mal in Deutschland in einer ähnlichen Gegend gewohnt, im der Nähe von Schwalbach im Taunus. Das war ein bisschen harmloser, aber ich hatte seltsame Lust, (spürte) fast einen Sog zu einer Entpersönlichung, die ja hier eigentlich jeder hat. Dass man denkt, in dieser Landschaft könnte man das alte abendländische Scheiss-Ich versickern lassen oder ganz neu auftauchen lassen, durch diese gespenstische Formen.

Georg Stefan Troller: Peter Handke in Paris. 1975 (Szenenausschnitt)

Handkes verschwommene Plauderei über dieses in protzigem Beton daherkommende Viertel macht mich neugierig. Er charakterisiert hier die Seele eines Seins, das in La Défense viele Jahre später auch von mir Besitz genommen hatte. Mein Inneres formierte sich in den gespenstischen Formen der angeberischen und gleichzeitig gruseligen Stadtarchitektur am Ausgang des 20. Jahrhunderts. Das verschaffte mir den Adrenalinschub meiner Karriere, wegen dem ich eine Beziehung leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatte; gleichzeitig versetzte es mich in Schrecken: was würde da wohl noch auf uns zukommen an positivistischen Zumutungen? Nun, damit hatte ich recht, wenn ich an den heutigen Zustand unserer Welt denke. Der von mir erlebte Rausch einer marginalen Weltbeherrschung sollte sich schon bald in Luft auflösen.

La Défense, vom Arc de Triomphe aus gesehen. By Norio Nakaama, Wikimedia Commons

Ich bin fasziniert von Handkes Aussagen über den Charakter von La Défense. Ich verfolge also die Spuren seiner Überlegungen und finde mehr darüber in einem Sammelband, den er unter dem Titel Als das Wünschen noch geholfen hat“ im Jahr 1974 veröffentlicht hat. Darin enthalten ist ein Essay mit dem Titel Die offenen Geheimnisse der Technokratie, ein Text, der mit einigen von ihm gemachten Schwarzweissfotos von La Défense ergänzt wird. Ich lese darin eine Präzision seiner Plaudereien im filmischen Portrait seiner Tage in Paris, finde aber auch viele neue Gedanken. Etwa jenen, dass La Defense eigentlich eine Sperrzone sein müsste,

weil da die Geheimnisse der technokratischen Welt sich ganz unverschämt verraten. Ein Stacheldraht gehört ringsherum und Schilder „Fotografieren verboten“, Aber die verantwortlichen Unmenschen in ihren menschenwürdigen Umgebungen sind sich schon zu sicher. Geil lassen sie auf den Tafeln vor den Hochhausunterschlupfen ihre Namen leuchten: Bank von Winterthur, Chase Manhatten Bank, Siemens, Esso …..

Peter Handke: Als das Wünschen noch geholfen hat. 1974

Heute, so viele Jahre danach, bin ich imstande meine damalige technokratische Verliebtheit in La Defense mit viel Distanz zu shen. Die Erinnerungen daran sind schal und blass. Wenig ist von der Attraktivität der technokratischen Welt übrig geblieben. Ihre Geheimnisse, ihre schrecklichen Erzählungen von Menschenverachtung, Ausbeutung und Umweltzerstörung sind heute in aller Bewusstsein. Sie haben sich ausgeblutet und sind unerhörte Riesen, die hoffentlich bald vom Antlitz unserer Erde verschwinden werden. Noch nehmen wir sie hin.

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