
Sass einige Sekunden noch, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Und der Frost, von ihm her, dringt mich an, schneidend, dass ich mich schutzlos und bloss fühle davor in meinem leichten Anzug. So ging ich.
Thomas Mann: Dr. Faustus.
Es ist manchmal eigenartig, wie die Realität mit dem gerade Gelesenen und dem wild Phantasierten koinzidiert! An jenem Tag, als ich mit dem Zug fahrend im Dr. Faustus von Thomas Mann weiterzulesen versuchte, mich dabei nach Bregenz zu Ausstellung und See begab, der Pandemie begegnete und dem Teufel in seiner unerwarteten Gestalt lauschte …….
Doch halt! Alles der Reihe nach erzählt von diesem Tag, der stotternd und ächzend begann und in tiefer Erschütterung letztendlich kein Ende nehmen wollte.
Es war der Tag, als ich am Abend zuvor mit grosser Ergriffenheit im Dr. Faustus von Thomas Mann gelesen hatte, eine Lektüre, die mir nicht aus dem Kopf gehen wollte. Es war jenes Schlüsselkapitel, das 25. dieses Romans, in dem der einsame und an Migräne leidende Komponist Adrian Leverkühn in einem italienischen Bergdorf den Teufel trifft: oder besser dem Teufel in sich selbst begegnet. Denn so klar und eindeutig ist diese Begebenheit nicht, über die sein Freund Serenus Zeitblom aus der Hinterlassenschaft des Künstlers berichtet. Gesessen ist er dabei er in einem halbverdunkelten Raum, als ihn plötzlich ein eiskalter Windzug anmutete und veranlasste, sich mitten im Sommer in wärmende Kleidung zu hüllen. Und dann beginnt die Ausprache mit dem anmassend frechen Fremden, der so viel Persönliches über Adrian weiss, dass es fast den Anschein hat, dieser hielte nur Zwiesprache mit sich selbst. Die Kälte des Bösen weht uns an, Adrian kämpft mit der Realität der Begegnung. Er bezweifelt die Präsenz des Teufels, glaubt, zu halluzinieren, mit seiner Phantasie beschäftigt zu sein. Der Böse repliziert und führt sein frierendes und zweifelndes Opfer vor. Ich denke, so muss es sein, wenn sich der Abgrund in einem Selbst auftut, wenn man mit dem (selbst kultivierten) Bösen spricht, einen Pakt mit ihm, also mit sich selbst eingeht. Das ist die einzig nicht märchenhafte Möglichkeit, dem Bösen zu begegnen: sie in seine Selbstwahrnehmung zu verlegen.
Ich wache also auf am Morgen nach dieser Lektüre, mit dem Plan nach Bregenz zu reisen: ein Besuch aus gesundheitlichen Gründen, eine mehrmals jährlich getätigte Routine, die ich stets mit dem Besuch einer Kunstausstellung verbinde. Noch immer weht mich die Stimmung der Teufelsszene an, ich muss von ihr auch geträumt haben. Sehr stotternd beginnt deshalb meine grenzüberschreitende Reise. Das geamte Zeitkonzept ist aus dem Ruder gelaufen, mein Reiseverlauf stockt und macht Mühe. Zerstreut buche ich falsche Tickets, abgelenkt steige in die falschen Wagenklasse ein, sodass ich stehend und lesend die Fahrt beim Ausgang verbringe, vielleicht um in der nächsten Station in den richtigen Wagen umzusteigen. Doch tue ich es nicht. Irritierende Verhandlungen folgen mit der gut Italienisch aber gebrochen Deutsch sprechenden Zugbegleiterin: Ja, ich gehöre eigentlich in die Zweite Klasse! Ich finde meinen Platz in dieser Welt nur schlecht. Erbittert stecke ich mein Buch wieder in die Tasche.
In Bregenz angekommen, machen die Besorgungen Mühe und sind zum Teil sehr skurril. Weil ich am selben Tag wieder in die Schweiz zurückreisen will, brauche ich nicht nur die dritte Impfung, sondern auch ein elektronisch ausgefülltes Einreiseformular und eine Testung meines pandemiebezogenen Gesundheitszustandes. Obwohl gerade aus der Schweiz angekommen, unterziehe ich mich dem Ritual, um in ein paar Stunden dort wieder ungehindert einreisen zu können. Ich bin an die Absurditäten des Grenzübergangs gewohnt, ertrage die Dinge apathisch und ergeben. Dutzende Male habe ich in den letzten Jahren die österreichisch-schweizerische Grenze überschritten und mich dem Wahnsinn unlogischer Regelungen gefügt. Und nie, nein nie wurden diese kontrolliert! Das Testzentrum empfängt mich in aller Einsamkeit und Lieblosigkeit im Areal des Festspielhauses. Kaum findet man den Weg dorthin, so schlecht ausgeschildert und verborgen ist es unter den Sitztribünen. Man merkt: hier will man die Pandemie eher verbergen, denn bekämpfen. „Wien darf nie Bregenz werden“, denke ich mit der Arroganz und dem berechtigten Stolz eines von der Gesundheitsvorsorge seiner Heimatstadt verwöhnten Städters.
Die Seebühne ist mitten im Umbau, das Gerüst im grauen See deprimierend, apokalyptisch ragt es ins Nichts. Ein junges Mädchen hantiert beim Eingang des Testzentrums an einer vor ihr in der Luft surrenden Drohne: Filmaufnahmen, aber bitte wovon? Nur die absurderweise aufgezogene amerikanische Flagge auf der Seebühne zeigt etwas Lebendigkeit, und gibt bekannt, dass man hier in der nächsten Saison Madame Butterfly zu spielen beabsichtigt. Alles andere ringsum ist aber unbedeutend, eine Landschaft aus Stahlskeletten, Holzverschalungen. Seekloake und Himmel. Die Tribünensitze in verschlissenem Schmutziggrün, die Geländer schmutzig und verrostet. Nichts vom Glamour der Bregenzer Festspiele, zu den die österreichischen KulturministerInnen gerne reisen, um sich mit ihrer Entourage sehen zu lassen. Ein paar Seemöven kreischen.
Die Damen am Schalter der Teststation sind jung und in höchstem Grad desinteressiert und gelangweilt, auf das schriftliche Testergebnis muss ich bis nach der Mittagspause warten. Auch zur Wiedereröffnung nach der Mittagspause verspätet man sich. Der Tag läuft nicht gut heute. Zuerst die stotternde Zugfahrt, nun penetrante Trostlosigkeit und der gesundheitspolitische Dilletantismus. Die Sehnsucht nach Lektüre und ein wenig Geistesgeschichte bleibt. Unangenehm kalt ist es ausserdem. Der Tag macht nicht Lust auf mehr. In meiner Umhängetasche indes knistert noch immer das Abenteuer des Dr. Faustus, von dem ich auch heute nicht lassen will. In ein Kaffeehaus gehen und dort lesen? Schlecht zu bewerkstelligen in einer Stadt, die beschlossen hat, erst wieder in der nächsten Festspielsaison aufzusperren. Ausserdem gibts hier nur Bäckereien, nicht einmal eine assortierte Konditorei. Wie kann hier ein Kaffeehaus bestehen dürfen? Alles ist zudem im Zusperrmodus. Nicht nur die öffentlichen Toiletten sind geschlossen, an einigen Sitzbänken im Park hat man sogar die Sitzflächen abmontiert. Ich erleichtere mich zwischen mageren Büschen und kahlen Bäumen. Mit Recht und ohne Scham, soll da nur eine/r kommen! Hat man hier weniger Freiheit als ein Hundetier?

Flucht also in die Ausstellung im Kunsthaus Bregenz (KUB): die lange und sehnsüchtig erwartete mit einer Künstlerin aus Nigeria! Aufgenommen von der Erhöhung durch die Kunst und entrissen der Banalität des grauen Jännertages begleiten mich die Erinnerungsfetzen wie das schreiend masslose Musikstück aus Adrian Leverkühns Apocalipsis cum figuris. In der Ausstellung von Otobong Nkanga im Kunsthaus Bregenz steige ich (auch physisch) von der Unterwelt (Abyss) über drei Stockwerke hinauf in die Höhen der alles verzehrenden Sonne, welche das Leben vernichtet. Ein sterbender Baum aus dem Bregenzer Wald bohrt sich durch die Zwischendecken des KUB-Gebäudes. Hat der Mensch den Pakt mit dem Teufel nicht schon längst geschlossen und bezahlt nun dafür? Tag für Tag, Katastrophe für Katastrophe? Ist die Anrufung des Dämonischen nicht auch Ausdruck der Endzeitstimmung am Ausgang des selbstverschuldeten Anthropozäns? Kreischt die Teufelsmusik nicht aus allen Fugen, jetzt zwar besonders stark, aber meist verhalten in jeden Winkel der Zukunft? Ist die Absurdität der Pandemie ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf die Globalisierung der Klimakatastrophe? Düstere Gedanken, die aber seltsam real sind, denn sie sind Ausdruck einer neuen Normalität des Schreckens. Als ich das letzte Stockwerk des Kunsthauses betrete, dessen Boden zur Gänze mit getrockneten Schlamm bedeckt ist, dort mich ergehe, wo der Staub die Welt verschlingt und das Sonnenlicht symbolisch zur Todesfalle wird, bin ich überwältigt von der Schönheit des Untergangs. Ich lasse für einige Momente diese absurde Ästhetik auf mich wirken. Fast überkommen mich Tränen der Rührung. Ja, so muss es wohl sein, am allerletzten Tag des Anthopozäns: ästhetisierter Schrecken, zerstörende Unbeteiligtheit und Alle sind ganz alleine gelassen in grandioser Kulisse.
Dann, nach meiner Rückkehr in die deprimierende Gegenwart, in die frierende und in sich verkrochene Stadt am Bodensee, weht mich wieder die Kälte einer anderen Welt an. Sogar die Möwen im Wind scheinen zu frieren. Das will ich über mich ergehen lassen, einsam an einem eiskalten und verlassenen Seeufer. Ich besorge mir eine kleine Flasche Schnaps im nahen Sutterlüti, der auf mich (wie immer) trostlos wie eine unbeleuchtete Lagerhalle wirkt. Mir ist bewusst, wie kalt es draussen ist, trotzdem gehe ich in Richtung „meines“ Baumes und setze mich auf eine Bank zum Seeufer. Niemand setzt sich dem gerne aus. Möwen nehmen diese Chuzpe als Aufforderung zur Begegnung zwischen Tier und Mensch: im scharfen Wind blähen sich ihre Gefieder, wenn sie auf mich hinabstossen. Ich jedoch habe nichts zum Füttern dabei. Warum auch? Mir geht es nicht um Tiere oder Landschaft, sondern ganz allein um mich. Ich richte trotzdem den Blick über den spiegelblanken und wintergrauen See, will mich darin verlieren, ohne besondere Hoffnung. Die Sonne geht langsam unter, das Rot am Himmel macht die Atmosphäre nur noch unwirtlicher. Seltsam friedlich und still wird es auf einmal. Neben mir auf der Banklehne sitzen aufdringliche Vögel in Weissgrau.

Langsam trinke ich aus dem kleinen Glasflakon, mache mich systematisch betrunken. Es ist mehr ritual, denn sinnliches Erleben; weniger Sucht als sich Süchtig – Machen. Endlich bin ich wieder angekommen beim Dämonischen von gestern: die Landschaft senkt sich in mein Bewusstsein und ich verschwinde in ihr. Irgendwo schräg vor mir sitzt der Teufel und weht mich an mit seiner Kälte, doziert über das Leben, höhnt über meine Empfindlichkeit. Wir beginnen unser Gespräch und ich fühle mich seltsam vertraut mit ihm. Langsam beginne ich zu verstehen: etwa die Behauptung, dass es ohne das Böse auch keinen Gott gäbe, dass die diabolische Existenz darüber hinaus vielleicht auch die einzige Vorbedingung von Welt sein könnte. Kein gestürzter Engel ist Satan, sondern ein verkommener Gott, der seinen guten Bruder gemeuchelt hat. Ich muss die Szene im 24. Kapitel des Dr. Faustus nochmals lesen: das nehme ich mir vor. So viel Wahres steht darin!
Mir wird wohlig warm, mein Plan ist gelungen: eine Zwiesprache mit dem Bösen zu haben; ihm einen Platz zu geben in meinem gescheiterten Tag. Aber noch bin ich konzentriert, Herr meiner Selbst: bevor ich frierend die Kontrolle über mich verliere, auf der Bank mit den Möwen verschmelze und vor dem Wahn dieser Welt kapituliere, erhebe ich mich, schwanke benommen und betrunken am Uferweg des Bodensees dem Bahnhof zu. Schwer wiegt das Erbe der Menschheit und ich erfreue mich am Bösen. Auf den Besuch der Billboards entlang der Seestrasse, die ich als Ergänzung der Ausstellung ansehen wollte, verzichte ich.
Tage später bin ich in meinem Buch zu jener Stelle gelangt, worin das Werk Adrian Leverkühns mit Namen Apocalipsis cum figuris vom Erzähler des Romans beschrieben wird:
„… dieser aus Johlen, Kläffen, Kreischen, Meckern, Röhren, Heulen und Wiehern schauderhaft genmischten Salve von Hohn- und Triumpphgelächter der Hölle.“
Thomas Mann: Dr. Faustus
Ja, so hat es sich angefühlt, meine Zeit der Begegnung mit dem Pferdefuss, im kalten Bregenz vor der unendlichen Weite des Bodensees.
sollten Otobong Nkangas wunderbare Webteppiche nicht eher stimmungsaufhellend wirken? In den letzten grandiosen Teppich waren sogar lebendige Pflanzen eingewebt. Für mich war ihre Ausstellung in Bregenz jedenfalls keine weitere Dystopie, sondern eine Liebeserklärung an die Vielfalt, Phantastik und Resilienz des Lebens. Grade im Hinblick auf widrige Orte (Abyss oder Wüste) und im Angesicht von Krisen: das Leben geht weiter. Notfalls auch ohne uns.
Ich hoffe, der böse Kater ist überstanden!
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Eigenartig immer wieder die unterschiedlichen Sichtweisen, aber ganz wichtig. Das ist wohl die Aufgabe von Kunst. Schön, dass dir die Ausstellung auch gefallen hat!
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