Literarischer Salon. Nikolaj Wassiljewitsch Newrew, 1867. Wikimedia Commons.

Ich bin in letzter Zeit fremdgegangen. Nun, nach wenigen Wochen habe ich die Liebschaft wieder verlassen und kehre reumütig zu meinem Blog zurück. Was war geschehen?

Ich habe mich in einem der in den letzten zehn Jahren so zahlreich aufgepoppten Bücherforen eingetragen und bin dort dem Schreiben von unterschiedlichen Textsorten nachgegangen. Ich habe Bücherrezensionen verfasst, ein Lesetagebuch geführt und schliesslich an zwei Leserunden mitgeschrieben, habe fleissig andere kommentiert, meine Smileys hinterlassen und versucht, zum allgemeinen Content-Bestand mit unterschiedlichen Fundstücken beizutragen. Ich wurde, weil ich so fleissig war, nicht nur mit Rezensionsexemplaren einiger Verlage bedacht, sondern auch mit sogenannten „Fortschrittspunkten“ und einem Gutteil freundlich-dümmlicher Replies offenbar erlebnishungriger Lehrerinnen. Ich hätte glücklich sein können, hätte ich mich der dort herrschenden Lese- und Kommunikationskultur gefügt, als einer von wenigen Männern unter sehr vielen Frauen. Aber der Stachel hat gelöckt, natürlich. Ich kann wohl niemals Ruhe geben. Wie meine Buhlschaft hiess, soll hier nicht gesagt werden. Sie war aber eine der Besseren.

Ich bin die neue Beziehung nicht ohne reifliche Überlegung eingegangen, wollte auf alle Fälle halbwegs qualitätsvolle Literatur gemeinsam lesen, und, was noch wichtiger war, halbwegs qualitätsvolle Gespräche führen. An letzterem bin ich gescheitert, was umso schlimmer war, weil ich gerade bei dem neuen Buch der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen (das ich an anderer Stelle in Mostindien besprechen will!) konzentriert um Erkenntnis rang. Und plötzlich war es so: ich konnte das sinnentleerte Geplapper der BeiträgerInnen, die von peinlich-bildungsbürgerlicher Attitude und stolzer Besserwisserei geprägt waren, nicht mehr ertragen. 

Der eigentliche Anlass? Nachdem ich mir in meinem Online-Lesetagebuch die Frage gestellt hatte, warum den eigentlich in Leserunden schriftliche Inhaltsangaben geschrieben werden und ich argumentiert hatte, dass Inhaltsangaben wohl sinnlos seien, wenn ohnehin jeder das Buch in dieser Runde gelesen habe, brach der Shitstorm los. „Wir brauchen die Inhaltsangaben als Orientierungshilfe!“, schrie frau ängstlich. Wie unsensibel von mir! Ich war offenbar in eine Geschützte Lesewerkstätte geraten und nicht in eine inhaltliche Debattengesellschaft um ein Buch. In den Augen der selbsternannten Bibliophilen war ein Buch wohl immer nur Inhalt, der noch dazu spannend sein sollte: formale Bestimmungsmerkmale und kontextorientiertes Lesen waren mehr oder weniger unbekannt.

Ich will die unerfreuliche Diskussion über meine Enttäuschung über das Niveau der LeserInnen, denen ich begegnet bin, hier nicht weiter ausführen: das fiele wohl in die Kategorie der Arroganz und der Ungerechtigkeit. Wird man aber in einem Bücherblog verdächtigt, möglicherweise Germanistik studiert zu haben, und soll man sich deshalb rücksichtsvoll in Diskussionen rücksichtsvoll zurückhalten: dann ist der Bogen des Antiintellektualismus wohl mehr als überspannt. 

Aber selber schuld, wenn man nicht weiss, wie rasch ein Gespräch aus dem Ruder laufen kann, das sich mit Kritik an dem befasst hat, was die Bestimmungsmerkmale einer Leserunde sein sollten.

Das also war meine Erfahrung mit dem, was in den Medien einst so hoffnungsvoll als DSG (Digital Social Reading) diskutiert wurde und auch im Feuilleton einigermassen Beachtung fand. Denn Social Reading schien zunächst so viele Vorteile bieten: Für den Leser die Möglichkeit orts- und zeitunabhängig mit zunächst unbekannten zu dieskutieren; für die Verlage die LeserInnen gläsern zu machen, wie Die Zeit vor 10 Jahren schrieb:

Auf Readmill kann genau verfolgt werden, wer wie viele Bücher in welcher Geschwindigkeit gelesen hat, welcher Lesestoff weiterempfohlen wird und welcher durchfällt. Mit solchen Marktanalysen wollen die Readmill-Gründer irgendwann Geld verdienen.

Die Zeit: Social Reading. Der Leser soll gläsern sein. 13. Jänner 2012

Die mit grossem medialen Brimborium gehypten SR-Projekte wie Readmill und Sobooks blieben jedoch weit hinter den Erwartungen zurück und wurden eingestellt. Nur einzelne Quatschbuden, wie ich gerade selbst in einer war, blühen und gedeihen: verflachen aber literarisch immer mehr, weil sie zur Märchenstube der WohlfühlbürgerInnen verkommen. Und man ist stolz darauf, dass man so freundlich ist zueinander, dass man sich lieb hat und sich geistig-sozial im Nirwana ergeht. Es geht vorrangig ums Soziale, um die (gemeinsam) hart erarbeitete Komfortzone des geistigen Wohnzimmers, um die Beschränktheit der Schulmeister, nicht um die kritische Debatte, die witzige Auseinandersetzung und den intellektuellen Streit zum Wohle philologischer Erkenntnis. Gemütlichkeit statt Qualität, latente aggressive Freundlichkeit statt intellektueller Streitlust mit Niveau. Smileys ohne Ende und Ziel: nur ja keine Konflikte aufkommen lassen. Selber schuld, tinderness, sich so naiv unter die bibliophilen SchwätzerInnen zu mischen.

Dabei war das gemeinsame Lesen doch immer so hoffnungsvoll besetzt! Bei meinen Recherchen zum Social Reading stiess ich nämlich auf eine jahrhunderte alte Tradition des gemeinsamen Lesens von Literatur. Vor allem im Zuge der europäischen Aufklärung hatten sich im 18. Jahrhundert literarische Lesegesellschaften gegründet, deren Mitglieder die damals noch recht teuren (und seltenen) Bücher gemeinsam anschafften und lasen. Sie waren der Motor der bürgerlichen Emanzipation. Erste Lesegesellschaften entstanden in Deutschland um 1720, die größte Anzahl an Gründungen war im frühen 19. Jahrhundert zu verzeichnen. Ende des 18. Jahrhunderts gab es geschätzte 500 Lesegesellschaften mit mehr als 25.000 Mitgliedern.

Eine Sonderstellung nehmen die sgn. „Literarischen Salons“ ein, die ab dem 18. Jahrhundert meist von Frauen gegründet wurden und sich um diese ausgewisenen Persönlichkeiten, den sgn. Salonières gruppierten. Sie trugen die Verantwortung für die im Salon herrschenden Verhaltenskultur. Meist gingen diese Salons weit über den Gegenstand der Literatur hinaus und bezogen sich auch andere Themen der sgn. Res Publica Literaris des 17. und 18. Jahrhunderts, also philosophische, kulturelle, ja sogar politische Themen in die Konversation mit ein. Einen idealtypischen Salon könnte man mit den Worten der berühmten französischen Salonière Virginie Ancelots mit folgenden Merkmalen bezeichnen: Kontinuität, Urbanität, Bindung an die Gastgeberin, Vertrauen und Höflichkeit im Gästekreis, Würdigung des wahren Verdiensts eines jeden und Vorrang von Esprit vor Rang und Reichtum kennzeichnen (siehe den Aufsatz von Petra Dollinger über den Salon. Nach der Katastrophe der beiden Weltkriege und der damit verbundenen Auflösung der „alten“ gesellschaftlichenden Ordnung verschwanden die Salons und wurden die einst dort angesiedelten Diskussionen in den öffentlichen (medial dominierten) Raum übergeführt. Das Feuilleton nahm sich seinen Platz und die rührend bemühten Bibliothekare mit Hang zum sozialen Austausch. Neuerdings, so las ich in den Ankündigungen meiner Ortsbibliothek, soll man beim gemeinsamen Lesen sogar stricken dürfen. „Lisme und Lose in der Bibliothek.

Aber: Mit der Durchsetzung des Internets ab den 1990er Jahren wurde das gemeinsame Lesen zu einer neuen Erfahrungsqualität. Einerseits konnten die Ergebnisse der persönlichen Lektüre einem breiten (und anonymen) Publikum vorgestellt werden (etwa über sgn. „Bücherblogs“), andrerseits die Interaktion mit anderen LeserInnen intensiviert werden. Dieses Phänomen des gemeinsamen (und oft öffentlichen Lesens) wird von der Leseforschung „Digital Social Reading“ (DSR) genannt. Es wurde mithin technisch möglich, dass sich Leserinnen orts- und zeitunabhängig auf gemeinsame Leseerlebnisse verständigen und damit auch Sozialkapital (Interesse und Anerkennung) erwerben konnten. Das Internet ist Gemeinbestand, er ist der Motor der Entwicklung zur Meinungsgesellschaft. In den späten 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden so zahlreiche Leseplattformen, oft kreiert und begleitet von grossen Verlagsunternehmen, die erkannt hatten, dass damit ein aufschlussreicher Einblick in das sonst recht anonyme Leseverhalten der BuchkonsumentInnen gewonnen werden konnten. Am international bekanntesten sind wohl Goodreads von Amazon und Lovelybooks von der Holtzbrinck Verlagsgruppe.

Der Weg vom elitären Salon des 17. und 18. Jahrunderts über die Entstehung von Bibliotheken bis hin zum gemeinem Online-Leseforum war einer, der sicherlich von der Demokratisierung des Lesens weithin geprägt war. Ob er allerdings auch zu einem tiefen intellektuellen Verständnis von Lektüren geführt hat, mag bezweifelt werden. Denn mittlerweile ist der zufällige und dann noch mediale gehypte Geschmack der Leserinnen und nicht das gesellschaftlich Notwendige zum Masstab der Buchproduktion geworden. Kommt noch dazu, dass das Bild den Buchstaben in der öffentlichen Wahrnehmung abgelöst hat. In der Krise des Literaturbetriebs kommen die digitalen Lesegesellschaften unserer Zeit gerade Recht: hier können Unternehmen testen, was denn gerade so angesagt ist. Dem Konsumangebot hilfts, dem Denken und dem Niveau der literarischen Auseinandersetzung jedoch nicht.

Es ist Zeit, ein Forum mit Niveau und intellektuellem Esprit zu gründen, denke ich voll Übermut. Über Literatur soll dort gesprochen werden, voller Witz und Esprit. Kein Massenpublikum, kein Schielen auf Tausende von LeserInnen. Unabhängig von Verlagen und sonstigen Geldgebern, nur dem Lesen, Denken und Schreiben verpflichtet. Geschmack soll herrschen und die Fähigkeit sich schriftlich gediegen mitzuteilen. Etwas gemeinsam entwickeln, mit anderen, die gerne im Salon entspannen und die Welt dort in Gedanken verändern: mit Büchern natürlich. Zum Teufel mit dem Algorithmus, Nachdenken ist angesagt! Was denken die geneigten Leser zu diesem Plan?