
Der Tod ist stets mit dem Skandal eines Tabus umgeben: deshalb wird so ungerne über ihn geredet. Trotzdem sterben sie, die Leute, regelmässig, gestern, heute, morgen und vor allem: jetzt. Auch selbst ist man dran, vielleicht schon heute Nacht oder morgen Früh.
Das ist ein sehr absurder Beginn eines Postings, oder nicht? So spricht man nicht und: so denkt man nur selten. Dennoch streift einem der Tod auf manch unserer Reisen. Man fühlt ihn dann ganz nah bei sich. An Orten wie diesem etwa: dem Klettgau.
Dort ist die Asche eines lieben Menschen einst auf dem Randen verstreut worden. Ab und an besuchen wir ihn, dort wo er überall liegt im Boden, eingearbeitet in die Laub, Erde und Staub, zu dem er gerne geworden ist. Er hat sein Leben selbst beendet – was in der Schweiz erlaubt, behutsam geregelt und gesellschaftlich akzeptiert ist. Als wir am Randen die Totenfeier begingen, um gemeinsam seine Asche zu verstreuen, fand in unmittelbarer Nähe ein Kindergeburtstag statt. Das fand ich poetisch und überaus passend. Den Kindern wurde es erklärt und sie haben es verstanden. Leben und Tod können gut nebeneinander existieren. Der Tod ist dem Menschen zumutbar: aber er zieht es vor, die Augen zu schliessen.
Diesen Platz haben wir nun wieder einmal besucht, eine Bratwurst mit dem Verstorbenen gegessen und ein wenig über ihn und mit ihm geredet: was sein Entschluss, sich das Leben bei vollem Bewusstsein (aber in fortgeschrittener schwerer Krankheit) zu nehmen, in uns ausgelöst hat; wie gut es war, dass er die Pandemie nicht mehr miterleben musste; wie sehr er uns natürlich fehlt. Tapfer hat er sein müssen bis in den Tod, wie ein verpflichteter Soldat des Lebens. Manchmal waren wir traurig bei unserem Gespräch, manchmal haben wir gelacht. Es war aber trotzdem schön und wichtig, dieses Bräteln mit unserem Verstorbenen.
Der Randen, ein bedeutungsvoller Ort für unsere Verwandtschaft: dort war der Verstorbene oft unterwegs, ein „Waldläufer“ mit künstlerischen Ambitionen und einer spirituellen Jenseitsgerichtetheit. Es ist ein relativ einsames Waldgebiet, ein Ausläufer des Schweizer Juras in unmittelbarer Nähe zu Deutschland. Unweit von dort befindet sich der kleine Ort Hallau mit seiner auf einem Hügel gelegenen Kirche, die dem Heiligen Mauritius („Hl. Moritz“) geweiht ist. Unser toter Freund hat sie mit anderen in den Neunzigerjahren renoviert. Sein Beruf war Maler und Anstreicher. Daran konnte sich seine Tochter noch gut erinnern. Wir fuhren hinauf zur Kirche, bei wunderschönem Wetter und im Sonnenschein.

Liest man in der Geschichte der Pfarrkirche nach, so erfährt man, dass die Kirche deshalb nach dem Heiligen Mauritius („Moritz“) benannt wurde, weil man hier der Sage nach Reliquien des Heiligen in einem alemannischen Gräberfeld in ihrer unmittelbaren Nähe gefunden hatte. Die Bergkirche wurde 1491 an Stelle einer Kapelle gebaut und entwickelte sich aufgrund der Reliquienfunde recht rasch zu einer regional bekannten Wallfahrtskirche. Gräberfunde waren es von angeblich von Jünglingen aus der thebäischen Legion des später heiliggesprochenen Mauritius, die den Bekanntheitsgrad der Wallfahrtskirche damals begründete. Die von Mauritius angeführte Legion bestand angeblich nur aus Soldaten, die dem Christentum angehörten. Sie waren im heutigen Kanton Wallis stationiert und weigerten sich der Legende nach standhaft, den alten Göttern zu opfern bzw. sich an der Christenverfolgung zu beteiligen. Schliesslich fielen sie dieser selbst zum Opfer. Deshalb hier auch dieser Heilige, der neben vielen anderen Funktionen auch jene des Schutzheiligen für Soldaten und dessen Pferde, sowie für die Messer- und Waffenschmiede innehat. Und auch er ist den Märtyrertod gestorben: der Legende nach mit seinen standhaften Soldaten.
Da passt es schon sehr gut, dass sich in einer Ecke des Kirchhofes, der mit einem schönen Wall umgeben ist, drei bemerkenswerte Grabsteine von Soldaten bzw. Menschen, die den Weltkriegen zum Opfer gefallen sind, hinter Büschen versteckt sind. Ein Grab ist das eines „deutschen Kriegsopfers aus dem Jahr 1945, dazu konnte ich bei meinen Recherchen keine Informationen finden. Dafür zu einem schlichten Grab mit Metallkreuz, in dem Denis Stivel ruht, ein Soldat der sgn. frz. Bourbaki-Armee, welche im Deutsch-Französischen Krieg in die Schweiz geflohen war und dort Kriegsasyl erhielt. Die Hilfsbereitschaft der Schweizer soll gross gewesen sein, die 87.000 Soldaten der Armee wurde auf alle Kantone der Schweiz verteilt, das 1863 gegründete Rote Kreuz bewährte sich dabei in seinem ersten Grosseinsatz. Die dritte Grabstelle, von den beiden anderen flankiert fällt eher protzig aus, so protzig wie das Leben des Begrabenen wohl gewesen sein mag. Dort liegt „Leutnant Bringolf selig“ begraben, ein Schaffhausner, der vielen Lebensbeschäftigungen nachgegangen war: Doktor, Militärattachee, Söldner, Hochstapler und Kriegsheld, wie uns berichtet wird. Seine Lebenserinnerungen, die ehrlich und offen gewesen sein sollen, sind in einem heute vergriffenen Buch versammelt. Im Internet gibt es relativ viel über ihn zu lesen.
irgendwann ist es Zeit, sich vom Friedhof und seinen Toten und den Gedanken an den Tod zu verabschieden. Wir beschliessen, nach Hause zu fahren. Beim Verlassen des Kirchhofs fällt mein Blick auf zwei Grabreihen, die demnächst (ich habe nachgerechnet: nach 25 Jahren schon!) aufgelassen werden sollen. Nicht einmal der Kirche kann man mehr trauen, die da immer propagiert, dass sie einen zur „Ewigen Ruhe“ betten möchte. Nichts da, nach fünfundzwanzig Jahren ist Schluss mit Liegen in geweihter Erde. Da darf man bloss irgendwo im Nirvana ruhen: und auch das ist höchst unsicher! Dann doch lieber in alle Winde zerstreut werden und zu Erde werden und zum Bestandteil der Natur, nicht wahr? Das mag wohl Trost spenden können, abseits der verlogenen und scheinheiligen Religionen dieser Welt. Und dabei muss ich an einen Text von latifolius denken, den er vor kurzem auf seinem Blog geschrieben hat:
Die Beseeltheit anderer Wesen, ihre dialogische Disposition, diese Einladung zur Vermenschlichung, herrschte einst über die ganze weite Welt menschlicher Erfahrung. Und doch ist jene alte Naturfrömmigkeit, die noch alle Naturwesen als beseelt wahrnahm – nicht nur Haine, Bäume und Raben, sondern auch Hügel und Quellen und Flüsse – als massgebliche, der gesellschaftlichen Praxis zugrunde liegende Kraft abhanden gekommen.
Latifolius: Die Entseelung der Natur bringt die Ausbeutungs-Lizenz mit sich.