„Wo kommst du her, Nivedita?“ (…)

„Aus dem Internet. Ich lebe im Internet.“

Mithu M. Sanyal: Identitty

Ich lese also den in Teilen des deutschen Feuilletons so hochgelobten Roman über Identitäten, das Buch von Mithu M. Sanyal mit dem Titel Identitty. Es ist auf der Shortlist des Deutschen Buchhandels 2021 gelistet und erschien im selben Jahr bei Hanser.

Schon nach den ersten Seiten des Buches, die ich zunächst mit einer Art belustigter Distanz, dann mit steigender Verärgerung gelesen habe, musste ich mich an zwei Ereignisse erinnern, die ich in Zusammenhang mit Debatten um das Thema Diversität gehabt hatte. Einmal war es die Frage um die Herkunft einer Anderen, die eine zähe und verbissene Diskussion ausgelöst hatte. Eine Seminarleiterin mit arabischem Familiennamen und braunem Hautton wurde gefragt, woher sie denn „eigentlich“ (d.h. ihre Eltern) stammten. Wir kennen diese Art der Frage inzwischen, von der die einen unterstellen, dass dies eine „rassistische“ Frage sei und die anderen entsetzt festhalten, dass die dabei vorgebrachte Neugier doch nichts anderes als freundliches Interesse ausdrücken sollte.

Ein andres Mal zum Thema „migrantische Geschichte“. Die damalige rot-grüne Koalition in Wien hatte beschlossen, „MigrantInnen“ das Recht auf ihre eigene Geschichte zuzugestehen. Nach dem Vorbild von Ballhaus Naunynstrasse in Berlin sollte ein postmigrantisches Theater entstehen. Es war eine sich selbst inszenierende und wohlwollend feiernde Veranstaltung, das mit der Ehre bedachte Theater stand schon in den Startlöchern für entsprechende budgetäre Dotierung. Nachdem mir das moralinsaure und doch etwas substanzlose Palaver der Veranstaltung zu viel wurde, hatte ich zum Zwecke einer Begriffsbestimmung provokant in die Runde gefragt, wer denn an meiner (sic!) Geschichte Interesse habe: ein „weisser“ Mann in Führungsposition, einer, den einst (als Bildungsbenachteiligter der Arbeiterschicht) die Kreiskysche Bildungspolitik im Fokus hatte, immerhin auch Migrant der Vierten Generation. Es ging mir darum, den Begriff des Migranten zu definieren, bevor man Empathie, Solidarität und finanzielle Mittel über ihn ausleerte. Betretenes Schweigen erfüllte nach meiner Wortmeldung den Raum, um dann einem unverhohlenen Wutgemecker Platz zu machen. Da war der Vorwurf „kultureller Aneignung“ noch die höflichste der Wortmeldungen.

Mit diesen beiden Erinnerungsfetzen sind wir schon mitten drin in dem zu besprechenden Buch von , in dem mit flapsig – klugen Dialogen ein komplexes Problem erörtert werden soll. Das Faktische der Gesellschaft ist desaströs („Black Lifes Matter!“), der Anspruch der Erzählerin hoch und die Diskussion verzwackt. Coolness, moralischer Anspruch, Pathos und die Mühen der Selbstfindung gehen dabei eine unselige Mischung ein, selbst wenn sie in Ironie verpackt daherkommen. Wir tauchen also tief hinein in die Wokeness-Blase linksliberaler Identitätspolitik. Da wird engagiert diskutiert um das, was Gut oder Böse, politisch korrekt oder fahrlässig, fortschrittlich oder reaktionär, weiss oder coloured ist. Ein akademischer Diskurs im Soziologenslang, der allerdings tief einsickert in die prekäre Befindlichkeit der ProtagonistIinnen. Von Stimmungsschwankung zu Stimmungsschwankung eilen wir, von Buchzitat zu Buchzitat, von einem coolen Gezwitscher zum Anderen. Sofort wirds deshalb unübersichtlich; denn alles dreht sich um Alles und endet letztendlich im Nichts. Ein aggressiver, schicker aber auch etwas peinlicher Debattierklub, möchte man behaupten, im Milieu studentischer Verfasstheit. Eine inhaltlich kompetente Autorin nimmt uns literarisch unerfahren an der Hand, um uns die Wunderwelt der Identität zu erklären, eine bewegte Community abzubilden und uns dann ratlos hinter sich zu lassen. Doch alles der Reihe nach!

Kali Graffity in Mumbay. Wikimedia Commons

Die Heldin Nivedita Anand, eine vierundzwanzigjährige Studentin der Postcolonial Studies an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf, entdeckt ihre „indische, farbige Seite“. Der Vater ist tatsächlich Inder, die Mutter peinlich und Polin. Immer hat Nivedita sich als minderwertig empfunden und als inkomplett, als nicht wahrhaftig und schon gar nicht anerkannt. Ob dies an ihrer „race“ liegt oder an ihrer jugendlichen Unbedarftheit, das mag man/frau zunächst dahingestellt lassen. Zwar verhält sie sich bemüht „woke“ aber doch unreif und in einer sich verschärfenden Identitätskrise. Deshalb ist viel zu bereden in der Wohngemeinschaft, an der Universität und in der Kneipe. Das tut sie unter anderem in Gesprächen mit ihren KomillitonInnen, auf einem Blog mit dem Namen Identitty und vor allem in Gesprächen mit ihrer verehrten Professorin, einer PoC (Person of Colour), die als Universitätslehrerin unter dem Namen Saraswati zu einer Legende und gleichzeitig Hassfigur hochstilisiert wird. Mit ihr glaubt sie, Selbstgewissheit über sich zu erlangen zu können, die sie bislang vergeblich suchte. Wir wissen, das Erwachsenwerden dauert lange heutzutage, offenbar bis spät in die Dreissiger. Finanzielle Probleme sind dabei im Buch nie kein Thema. Man darf sich in Ruhe finden und hat auch das Recht dazu. Hier, in den Denkstuben der westlichen Welt gehts anders zu, als am globalen Rand. Alles kreist deshalb um den beigen bis braun-schwarzen Farbton ihrer Haut, die Rassismuskeule steht stets griffbereit in der Ecke, wenn die Dinge nicht so klappen, wie sie sollen. Im Notfall sind narzistische Männer an der Misere schuld. So viel Selbstmitleid allerorten! Der Entwicklungsfortschritt geht nur so lange gut, bis Nividita erfahren muss, dass ihr Idol mit Pseudonym Saraswati in Wirklichkeit Sarah Vera Thielmann heisst, und eben so „Weiss“ ist, wie jene, die man zu bekämpfen vorgibt. „Betrug! Inakzeptabel!“ schreien hysterisch die Medien und natürlich die eigene Community auf Twitter. Aus Fanverehrung wird Irritation, Spott und Hass. Für Nividita heisst dies: mitgefangen, mitgehangen. Die Philister liberaler Identitätspolitik richten nun auch über sie, weil sie sich weigert, sich von der nunmehr „weissen“ Universitätslehrerin zu distanzieren. Sie soll sich ihr gegenüber rechtfertigen. Selbst der Bruder der gestürzten Professorin kann sich ob so viel Anmassung und Arroganz nur verärgert abwenden. Natürlich ist er Inder: ein adoptiertes Kind und Verräter an der eigenen Schwester. Nividita versucht die Ursache des „Identitätsdiebstahls zu ergründen, treuherzig wie das Schosshündchen der coolen Wissenschafterin. Das dauert hunderte Seiten lang und führt zu nichts.

Das wars dann auch schon fast mit der Handlung, wären da nicht Mantra artig die Diskussionen um die vielen Begriffe, die da existieren in der intellektuellen Bubble: woke, cis, BIPOC, pc, gender, race, cultural appropriation, white supremacy, Postkolonialismus, Authentizität, social justice etc. etc. etc. Endlosschleifen von Behauptungen und Entgegnungen zu dem, was man selbst zu sein scheint, zu werden vorgibt, nie sein kann. Diese manifestieren sich in einem Tandem von vier Frauen: der enttäuschten, mit sich ringenden Heldin Nividita; ihrer standfesten, im Dingen des Rassimus erprobten Schwester Priti aus London; der entzauberten und aalglatt arroganten Sarasvati aka Sarah Vera und schliesslich der hinduistischen Göttin Kali, die widerstrebend zu Geprächen bereit ist, auf Nividitas Blog namens Identitty. Denn das Über-Ich ist mächtig und verträgt keinen Einbruch der Realität. Wir alle brauchen Orientierung und seis von einer Göttin. Selbstverliebt unterwirft man sich den Selbstverliebten. Wenn schon die Lehrerin entzaubert ist, dann muss eine handfeste Göttin herhalten:

Das letzte Mal, dass ich mit einem Teufel sprach ware er nackt, sichtlich sexuell erregt und eine Frau. Wenn man sich nicht einmal verlassen kann, dass der Teufel ein Mann ist, kann man direkt jede Form von Identität ablegen wie ein altes T-Shirt!

Mithu M. Sanyal: Identitty.

Die Handlung wirkt konstruiert oder zumindest seltsam isoliert im selbstgewählten Elfenbeinturm akademischen Diskurses. Man hat eigenartigerweise ständig das Gefühl, dass es weniger um die Sache, als um die Coolness der Romanfiguren geht. Das Schreiben geriert sich jugendlich erregt, ist aber selten wahrhaftig. Studentisches Protzgehabe, leider, statt feinfühlige Charakterzeichnung.

Nun kann ein Roman für einen beschränkten Kreis von DiskutantInnen durchaus von Nutzen oder auch nur unterhaltsam sein. Der Rest der Welt mag den Roman als eine Art exotistischen Einblick in einen bestimmten Kreis von „woken“ Menschen lesen, als diskursiven Eindruck von einem sich als liberal oder links verstehenden akademischen Segment. An der realen Welt jener, die als „PoC“ tatsächlich diskriminiert werden, schrammt der Roman wohl vorbei. Die wahren POCs müssen der Welt trotzen, können selten erhaben diskutieren.

Der Verdacht liegt nahe, dass selbst der Autorin ihr erste Roman nicht geheuer war. Ein umfangreiches Nachwort mit Glossar muss dem Missverständnis entgegenhalten und führt dann auch jene Personen an, auf deren Aussagen im Buch Bezug geworden wird. Ja, ein kleiner wissenschaftlicher Apparat entsteht. Man erfährt zudem, dass zumindest Teile der Twittermonologe, die den Roman als Textsorte überfluten, von realen Kollegen und Kolleginnen der Autorin zur Verfügung gestellt wurden. Die produzierte Blase ist nun perfekt: im Buch und im Kontext der Entstehung. „I love you so much“, entfährt es der Autorin, als sie sich bei den BeiträgerInnen bedankt. Ein umfangreicher Literaturanhang ergänzt diesen nachträglichen Versuch, das Buch aus der Laune studentischen Talks in akademische Höhen zu heben. Das ist ja recht sonderbar, dem Buch mit einem dokumentarischen Schlussteil grösseren Ernst, ja vielleicht auch Legitimität zu geben. So, als ob man dem aufgespannten Wortgeflecht nicht die volle Wucht der Wahrheit zutrauen möchte. Sachbuch oder doch Literaturversuch, frage ich mich.

Noch ein Zweites macht sich bei der Lektüre von Identitty unangenehm bemerkbar: eine gequälte, missbrauchte Sprache. Cool und intellektuell kommt sie daher, in einem Stakkato an dahingeworfenen Gedankensplittern, Handlungssträngen und Gesprächsfetzen. Diese Sprache ist, so möchte man höhnisch sagen, auf der Höhe der medialen gepeinigten Zeit: weniger literarisch als essayistisch, weniger um Wahrheit bemüht als um Wirkung, weniger Satzbau verwendend denn exklamatorische Phrasen. Und dann noch das unentwegte Switchen zwischen den Sprachen Englisch und Deutsch als flockiger Hinweis auf die globalisierte Welt, in der man sich jugendlich gewandt bewegt. Sprache adé, hier wird mit Sprachülsen um sich geworfen und hipper Text produziert. Die Worte strömen ungehemmt aus Kopf und Feder.

Wahrscheinlich ist es auch angebracht, nach der Rezeption des Romans zu fragen. Da wird von Pflichtlektüre gesprochen, für alle die sich mit struktureller Diskriminierung befassen (Lann Hornscheidt). Die Wiener Zeitung meint: Für Außenstehende ist „Identitti“ schlicht lähmend, so als würde man sich an der Uni in eine falsche (Be-)Lehrveranstaltung verirren. Als einen „Roman voller Liebe, Pop und Intelligenz“ bezeichnet ihn Kristine Harthauer und das Düsseldorfer Schauspielhaus bringt den Roman auf die Bühne. Die Identitätsszene Szene liebt das Buch, beschreibt es doch sie selbst. Humor, Liebe, Wärme und Vergnügen, das wünscht man sich und sagt es daher der Lektüre nach. Das muss peinlicherweise auch im Vorwort stehen:

„Was für eine gnadenlos witzige Identitätssuche, die nichts und niemanden schont. Man ist nach der Lektüre nicht bloß schlauer – sondern auch garantiert besser gelaunt.“

Alina Bronsky

Mich lässt der Roman kopfschüttelnd zurück, aber auch ich bin schlauer. Ich weiss nun, wie ein Thema zerredet wird ohne dabei in die Nähe guter Literatur zu kommen. Und ich weiss nun wohl auch, was ein selbstbezogener und eitler Erzählductus ist.