
Also wieder Bodensee, diesmal der kleine Ort Wasserburg, in dem der deutsche Schriftsteller Martin Walser als Sohn einer Gastwirtin geboren wurde. In einem virtuellen Buchklub anlässlich der Ausstellung Beziehungsstatus: Offen. Kunst und Literatur am Bodensee in Friedrichshafen lesen wir seinen Roman mit dem Titel „Ein springender Brunnen“, der als Spätwerk des Autors in den Achtzigerjahren veröffentlicht wurde. Immer wieder wird dieses Buch als sogenannter „Erinnerungsroman“ bezeichnet. Es seien Walsers Erinnerungen an (s)eine Jugend in dem kleinen Örtchen Wasserburg in der Nähe von Lindau am Bodensee. Martin Walser ist dort 1927 geboren, genauso wie der Protagonist seines Romans Johann. Der vierundneunzigjährige Schriftsteller lebt heute in Überlingen, nur wenige Kilometer von Wasserburg entfernt. Es liegt auf der Hand, warum dieses Buch im Rahmen der Ausstellung besprochen wird.
Wie auch schon bei Monika Helfers Romanen (Die Bagage, Vati und Kronprinz) geht es bei Walser um gefährdete Erinnerungen, doch anders als die Autorin aus dem Bregenzerwald begibt sich Walser schon zu Beginn des Buches in eine gedankliche Zwickmühle. Während es bei Helfer um die nicht mehr füllbaren Lücken der Erinnerung geht, hat der Erzähler in „Ein springender Brunnen“ ein grundlegendes Problem mit Vergangenheit und Gegenwart und damit implizit auch mit der Glaubhaftigkeit seines Erzählens:
Aber solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Als das war, von dem wir jetzt sagen, dass es gewesen sei, haben wir nicht gewusst, dass es ist. Jetzt sagen wir, dass es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen.
Martin Walser: Ein springender Brunnen
Woran also, kann man sich zwar erinnern, aber dennoch nicht verlässlich für die Qualität seiner Erinnerung einstehen wollen? Wenn man also schon heute ein Anderer ist, als man es damals gewesen ist, wofür will man sich dann noch verbürgen? Ein springender Brunnen ist der Roman einer Jugend (Walsers Jugend?) auf dem Lande, die angesichts der Katastrophe des Nationalsozialismus sich nur mitschuldig und beteiligt in Szene setzen kann. Ein Gastwirtsbub mit Hang zu schwierigen Wörtern wächst heran, sein enger Freund ein Nationalsozialist, die Mutter eine perfide Mitläuferin des Regimes. Nur der lebensuntüchtige Vater gibt ihm ein wenig kulturellen Halt durch Klavierspiel und Anleitung zur Ausbildung eines „Wörterbaums“. Nachdem die Mutter zur NSDAP beigetreten ist, treffen sich in ihrem Gasthaus die Mitglieder des Parteiapparat der Region. Wie sollte man sich auch der Massenhysterie des Nationalsozialismus und des Führerkults entziehen können, in den grausamen Dreissiger- und Vierzigerjahren Deutschlands? Wie sich dieser Geschichte entschlagen, wenn man selbst keinen Widerstand geleistet hat? Das führt uns schon zu den politisch motivierten Vorwürfen gegenüber Walser, der von der Literaturgeschichte oft bemühten Walser – Bubis Kontroverse. Sie wird uns heute aber nicht näher beschäftigen.
Sieht Walser in seinem Roman die Wahrhaftigkeit der Erinnerung gefährdet, so bedeutet für mich der Bodensee aus guten Gründen Erinnerungslosigkeit. Erst vor wenigen Jahren bin ich das erste Mal an den Bodensee gekommen, zur Arbeit nach Bregenz, welche mich in die beiden bedeutenden Museen der Stadt geführt hat. Mehrere Treffen in Museumscafes. Wenn ich es so recht bedenke, ist damals kaum Nennenswertes passiert, das gelohnt hätte, erinnert zu werden. Wenige und bedeutungslose Treffen mit Menschen, die mich wohl ebenfalls vergessen haben, wie ich sie. Das Gedächtnis bewahrt offensichtlich meist nur Dinge von Bedeutung oder besonderer Skurillität auf. Erst in letzter Zeit kehre ich, von der Ostschweiz kommend, wieder öfter in Bregenz ein, um nach der Erledigung dringlicher Verrichtungen einsam und ein wenig verloren am Bodenseeufer zu sitzen oder mich bedächtig in Museen zu „ergehen“. Wenig bis gar keine Geschichte habe ich also mit diesem geographischen Ort und Raum, daher auch keine Erinnerungen, die von tiefer Bedeutung für mich sein könnten. Die Gegend dort drüben in Deutschland, darunter Friedrichshafen, Wasserburg und Ueberlingen kenne ich noch gar nicht. Mein Blick verliert sich am Horizont des Sees, aber in keiner Erinnerung, die mit ihm verbunden ist. Der Blick und die Gedanken, denen ich nachhänge, versinken im Wasser: hinter dem Horizontan den Ufern und unter dem in dieser Gegend regelmässig kreisenden Zeppelin vermag ich nichts zu ersinnen und zu erinnern: Tabula Rasa! Martin Walser hat in seinem jüngst erschienen Buch „Sprachurlaub“ von solchen Momenten der Zeitlosigkeit des Alters geschrieben:
Der Himmel glüht, allwissend schweigen die Bäume,
Martin Walser: Sprachurlaub. 2021
wer’s jetzt noch eilig hat, ist ein Narr.
Existenz pur schwebt mir vor,
Weltmeister will ich sein
durch nichts
als Einbildungskraft.
Aber, und in grausamer Wirklichkeit finde ich mich in einem Stück grausamer Geschichte einer Landschaft ein, als ich Walsers Buch Stück für Stück lese, es fast schon abarbeite. Umso seltsamer muten mich deshalb Walsers Aussagen über sein erinnertes Wasserburg an. Jedem Beginn der drei Teile seines Romans stellt er allgemeine Betrachtungen über die Erinnerung voran. Einerseits proklamiert der Erzähler die Unmöglichkeit von Erinnerung, die den Realitäten von damals Rechnung tragen kann, andrers erzählt er eine Geschichte und sagt damit implizit, dass er das Erlebte erinnern könne. Er verführt uns mit all seinem schriftstellerischem Können geradezu, das Erzählte als wahrhaftig zu empfinden. Und doch behauptet er von uns, in dieser Erinnerung nur wie in einem Museum umhergehen zu können. Ein Riss tut sich auf zwischen dem, was er proklamiert und dem, von dem er kunstfertig erzählt. Wie ist es denn möglich, realistisch zu erzählen, bis in die verschrobenen Tonfälle der Bewohner hinein, die sich lesen, als hätten sie gerade gesprochen? Warum will uns der Autor wohl (ohne mit den Augen zu zwinkern!) aufs Glatteis führen?

Eine Epoche tut sich vor uns auf, in der ein Junge heranwächst, zeitgleich mit der Entfaltung des Nationalsozialismus auf dem Lande. Der Vater stirbt bevor er sich selbst vernichten kann, die Mutter profitiert vom politischen System und hofiert den Nazischergen. Menschen werden geschunden, geschlagen und bedroht: schon eine neue Normalität in einem neuen Deutschland. Der Sohn Johann wächst im braunen Geschwurble heran, dehnt und streckt sich (un)behaglich ins Erwachsenwerden und arbeitet an der Beherrschung seiner Sprache, die ihm sein Vater mittels Wörterbäumen ans Herz gelegt hat.
Da lese ich also in diesem Buch und erfahre nichts über die Topographie der Orte, die bis heute Walsers Heimat geblieben sind; aber alles fast weiss ich nun über den Siegeszug der Nationalsozialisten in den psychischen Apparaten der Menschen, die in den 1930er Jahren in einem Flecken am Rande dieses Sees leben. Nichts war so „normal“ wie die Entwicklung der europäischen Katastrophe in einer gepeinigten und bewusstlos gehaltenen Gesellschaft. Ich hätte mir eine schönere, eine beruhigendere Begegnung mit der Landschaft am Bodensee gewünscht. Aber Realitäten waren noch nie ein Wunschkonzert.
Den Blick im See verlieren: Einleitung * Wasserburg