Putin und Macron am (sehr) langen Tisch, 7. Februar 2022. Wikimedia Commons.

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat uns alle zunächst sprachlos gemacht. Der Schock sitzt tief, macht stumm, die Wahrnehmung versucht, mit den neuen politischen Wirklichkeiten des Lebens zurechtzukommen. Aber sind es neue Wirklichkeiten oder bloss die alten Wirklichkeiten im neuen Gewand? Wiederholt sich die Geschichte immer nur als Farce oder befinden wir uns in einer Spirale der Gewalt, die nur einige Jahrzehnte ausgesetzt hat. Nach vielen Tagen, in denen ich mit immer grösserem Entsetzen die Nachrichten verfolgt habe, tags und nachts, stündlich, täglich, kann ich wieder Gedanken formulieren und schreiben auf diesem Blog. Zum Krieg natürlich, wie manch andere es auch tun. An vielen Ecken der Blogkultur gehts allerdings weiter wie gehabt: mit leichten Themen und schönen Bildern.

Verständlich ist vor allem, dass Kinder und Jugendliche von der Nähe, der Erbarmungslosigkeit und vom Zynismus des Krieges schockiert, wenn nicht traumatisiert sind. Viele dieser Menschen sind nicht naiv, sie haben sich teilweise der Klimakatastrophe entschlossen entgegengestellt und entlarven die nicht enden wollende Selbstbezogenheit des politischen und wirtschaftlichen Establishments als Verdrängungsmechanismus, wenn nicht als Lüge. Diese jungen Menschen erleben nun, wie die Sicherheitsarchitektur Europas von einem Tag auf den anderen nichts mehr gilt. Frieden und Zukunft waren nur leere Phrasen, mit denen man sie getäuscht hat. Die Klimastreik-Jugend fühlt sich zu Recht betrogen, sie verweist darauf, dass sie schon lange auf den Verzicht fossiler Brennstoffe gedrängt haben. Gas und Erdöl, aber auch die Atomkraft sind auch in diesem Krieg Schlüsselthematiken. Als hätten wir es nicht ohnehin schon immer gewusst. Die neue Katastrophe ist nach der Beeinträchtigung durch zwei Jahre Pandemie und den Katastrophen der Klimakrise besonders schmerzlich. Die Menschheit bringt sich selbst zu Tode: durch falsch verstandene Globalisierung, Krieg und Umweltzerstörung. Die Pandemie ist dagegen nur ein kleines Problem. Im Grunde hat die Elterngeneration versagt: weder Frieden noch Zukunft kann sie für ihre Kinder sicherstellen. Nein, der Kriegsverbrecher in spe, Herr Putin, ist nicht an Allem Schuld,er ist nur ein besonders widerwärtiges Epiphänomen.

All jene, die schon ein paar Jahrzehnte länger als die Generation „Klimastreik“ in dieser Welt leben und empört und gekränkt sind über den ersten Krieg, den sie auf europäischem Boden miterleben müssen, kann ich nur eingeschränkt verstehen. Ich meine damit die „Generation der Geschmeidigen“, wie sie Nora Bossong in einem Essay in der TAZ (es gibt auch ein Buch mit selbem Titel) bezeichnet. Diese hätten in der Privatheit ihrer freiwilligen Politikvergessenheit die Welt nur mehr durch die Brille ihrer Selbstoptimierung gesehen.

Wir sind die Generation, die nach den tiefen politischen Grabenkämpfen und der Drohkulisse des Kalten Kriegs erwachsen wurde. Wir wurden politisiert in den neunziger Jahren, in denen im Westen der optimistische Glaube vorherrschte, Demokratie, Wohlstand und Frieden würden nun immer weiter wachsen. Die großen Bedrohungen schienen vorüber, die Wolke von Tschernobyl gehörte so sehr den achtziger Jahren an wie die Drohung der Atombombe.

Nora Bossong: Das grosse Versagen. TAZ, 26.2.2022

Geschockt ringen viele dieser Generation nun um Worte, sie müssen in einer veränderten Welt eine neue, realitätsgerechtere Sprache finden. Sie sollen, tragen sie nun politische Verantwortung, über Nacht zu den richtigen Worten und Taten finden. Manche schaffen das angestrengt, wie etwa Annalena Barböck: viele versinken in Selbstmitleid und fühlen sich schon wieder um ein Stückchen Gegenwart betrogen:Weltschmerz nennen sie es. Aber, so ist es eben, das Leben: Selbstmitleid zu zeigen und Weltschmerz empfinden, ist da zu wenig. Auch den Bösen gefunden zu haben, hilft hier nicht. Man versteht Putin nicht, unterstellt ihm Verwirrtheit, ja Verrücktheit. Wir sollten uns hüten, Krieg zu personifizieren: dies verdeckt nur die wahren Gründe. Man sollte Geschichte gelernt haben und nicht bloss die Juristerei oder Volkswirtschaft, die das schnelle Geld und dieleichte Karriere versprachen. Dann würde man erkennen, dass Putin nicht im luftleeren Raum agiert, sondern ein ganzes Arsenal an historisch gewordenen „Gefühlslagen“ in seinem Lnd, ja der internationalen Rechten bedient, ja sogar von ihnen gesteuert wird.

Jene Generation aber, die noch in der Welt des Kalten Krieges aufwachsen musste, kann das erneute Aufflammen eines Krieges in Europa nicht überraschen. Denn dieser Krieg ist keine „neue“ Wirklichkeit auf der mentalen Landkarte eines 60, 70, 80 – jährigen Lebens. Wahrscheinlich ist es der Nachkriegsgeneration nur ein wenig gelungen, Gewalt und Krieg an den Rand ihres Lebens zu drängen. Wir wissen aber, dass wir die Fratze der Gewalt verdrängt haben, das sie im Grunde nie unsere Biographie endgültig verlassen hat, dass sie uns begleitet hat, wie unser Schatten, wie ein böser Traum. Nun ist er wieder aufgetaucht: in der Nähe, in der Ferne, vom Hörensagen, als Bilder unermesslichen Leidens, als Trauma von Personen, die wir kennen. Wahrscheinlich haben viele von uns in der Vergangenheit die medial genau dokumentierten Kriege zu kleinen, unangenehmen Störungen degradiert, die uns in unserem Narzissmus zu kränken drohten. Das waren oft halb erfolgreiche Bemühungen um die „heile“ Welt und um die Pflege des Alltags von den kleinen wie grossen Sorgen des Alltags. Das ist im Grunde aber nur eine Beschreibung unserer Lebenslage wie -lüge und kein Vorwurf: denn wer könnte im Angesicht des Krieges ein ganzes Leben lang leben? Denn die Kriege haben uns ein ganzes Leben lang begleitet.

Nun werden die demokratische Errungenschaften des Westens bedroht, einer Demokratie, die wir zu einer Versorgungsanstalt des Individuums haben verkommen lassen. Es ist ein beschämendes Anspruchsdenken, das unser Hirn und vor allem unser Mitgefühl vernebelt hat. Nun aber bedroht der Krieg in der Ukraine und das atomare Szenario der Weltzerstörung nicht nur unseren biedermeierlichen Frieden und unsere Selbstbezogenheit zu zerstören, sondern auch die friedenspolitischen und wirtschaftspolitischen Fundamente unserer Demokratie. Die Vermessenheit mit der einige PandemieleugnerInnen von einer Diktatur des Staates sprechen, entlarvt sich als Egozentrik ohne jegliche Substanz. Kein Wunder also, wenn sich viele zynische LeugnerInnen der Pandemie nun der russischen Kriegspropaganda anschliessen. Diesselben Kanäle, diesselben menschenverachtenden Haltungen, diesselbe Egozentrik. Vermeintlich starke, rücksichtslose und menschenverachtende Diktatoren sind gefragt vom moralischen Lumpenproletariat unserer Gesellschaft. Von den Rechtsradikalen habe ich hier noch gar nicht zu sprechen begonnen: sie fühlen sich unter der Schirmherrschaft von Diktatoren ohnehin immer gut aufgehoben. Sie kommunizieren auf denselben Kanälen, entblöden sich bis zur Gewalttätigkeit und basteln an einer Zukunft, die ihren Todestrieb nur noch bestätigen soll.

[Ende erster Teil]