Im ersten Teil dieses Artikels habe ich darüber nachgedacht, wie sich drei Generationen in Europa mit Kriegen auseinandergesetzt haben: Die Nachkriegsgeneration, die sgn.Generation der Geschmeidigen und die Generation der KlimaaktivistInnen. Nun, im zweiten Teil, werden meine persönlichen Erinnerungen an Krieg zum Thema: 

Denken wir nach: Die Geschichte unseres Lebens war und ist voll von Krieg, von Gewalt und Zerstörung. Seien wir ehrlich: Wir haben all das unser ganzes Leben lang zu verdrängen versucht. Hören wir zu: Der amerikanische Historiker Tony Judt schrieb in der Einleitung seines 2010 erschienen Buches über das vergessene 20. Jahrhundert folgende bemerkenswerte Sätze:

Das 20. Jahrhundert liegt kaum hinter uns, und schon sind seine Konflikte und Dogmen, seine Ideale und Ängste im Dunkel der Vergessenheit versunken. Immerfort als »Lehren« beschworen, werden seine Erfahrungen in Wahrheit ignoriert.

Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert. 2010

Doch dieses Vergessen, ja Verdrängen war nicht nur vergeblich, sondern auch falsch. Das, was wir gegenwärtig miterleben, ruft bei uns, der Nachkriegsgeneration, zwangsläufig den Schrecken des vergangenen Jahrhunderts wieder in Erinnerung: es ist uns wieder näher gerückt und wir werden gewahr, dass Kriegsereignisse unser Leben immer schon begleitet haben. Das sage ich hier ohne jede ohne Larmoyanz und ohne Selbstmitleid. Stöbern wir doch in unserer Biographie, betrachten wir genauer, auf welche der vielen Kriege wir uns spontan zu erinnern vermögen. Es kann entlastend sein, sich bewusst und analytisch mit dem Krieg in seiner Biographie auseinanderzusetzen. Erst kürzlich hat der Analyst der Süddeutschen Zeitung in seiner Kolumne „Prantls Blick“ sich wieder einmal in die am Dachboden versteckten Dokumente seiner Eltern und Grosseltern vergraben. Krieg war da, überall Krieg. Im Schulheft des Vaters, in dem in Sütterlinschrift dem Rechenaufgaben über Truppenbewegungen abverlangt wurden, in den Briefen, die die Grossmutter von ihren Söhnen und Schwiegersöhnen von allen Frontabschnitten der beiden Weltkriege erhalten habe. Das sind Spuren, die sich tief un das Bewusstsein von uns Enkel und Kinder eingegraben haben. Doch damit nicht genug.

Auch ich stehe nicht an zu behaupten, dass meine frühe Jugend von den Nachbeben des 2. Weltkrieges geprägt war. Ich habe dies auf meinem Blog schon mehrmals angeschnitten, zum Beispiel als es um die Lücken der Erinnerung ging, mit denen wir alle umzugehen haben. Doch auch auf die Gefahr der Ablehnung durch meine Leserinnen und Leser, erlaube ich mir wieder, auf meine kriegsbezogenen Erinnerungen einzugehen.

Da war zunächst das Trauma meiner Mutter, die unter der Bombardierung Wiens von 1943 – 1945 und der Mangelwirtschaft des Krieges gelitten hat: das gab sie an ihren Sohn weiter, der bis heute nicht dem jährlichen Test-Sirenenalarm in seiner unmittelbaren Umgebung unbefangen lauschen kann. Da war die an Verschleppung grenzende Verschickung meines sechzehnjährigen Vaters als Hitlerjunge nicht nur an die zusammenbrechenden Fronten des Naziregimes; später sollte er, von den Franzosen in die Fremdenlegion gepresst, als Soldat in Indochina landen. So verlängerte er „seinen“ Krieg bis 1950 im Indochina-Krieg. Die vielen Schwarz-Weiss Fotos waren Erinnerungen aus Fernost, die abgemagerte Soldaten in Tropenuniformen zeigten. Im Mittelpunkt natürlich der hagere, an Malaria schwer erkrankte Vater, ein Scharfschütze in der Fremdenlegion im Norden des heutigen Vietnams.

Doch ein weiteres traumatisierendes Ereignis sollte nicht lange auf sich warten lassen. Es war der amerikanische Krieg in Vietnam, der meine politische Sozialisation als Jugendlicher entscheidend geprägt hat: die entsetzlichen Bilder der durch Napalm halb verbrannten Kinder, von öffentlichen Hinrichtungen, von Flächenbombardments und von der Entlaubung und Vergiftung ausgedehnter Waldgebiete durch Agent Orange. Ho, Ho, Ho Tschi Minh skandierten wir damals auf den Strassen und meinten mit unserem Protest nicht nur den tobenden Krieg in Südostasien, sondern auch die Nazigeneration, und das von ihr geprägte Establishment, welches uns sozialisieren sollte.

Der Kalte Krieg, ja dieser Krieg, der bis in die Nähe der Atomwaffen – Eskalation hochgeschraubt wurde: Ungarn 1956, Kubakrise 1962, die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Dieser August im Jahr des Prager Frühlings, als uns in der Stassenbahn in Wien ein Bekannter erzählte, dass soeben die Russen in Prag einmarschiert waren! Da wurde mir, dem Dreizehnjährigen, erstmals klar, wie gefährdet unser Leben in unmittelbarer Nähe des Eisernen Vorhangs war.

Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges wurde vor allem die Bedrohung durch einen unbegrenzbaren Atomkrieg zum ständigen Begleiter für viele Heranwachsende in Europa. Immer die Angst, dass die Bombe gezündet werden könnte: durch politisches Kalkül, militärisches Fehlverhalten, den Beschluss wahnsinniger Politiker oder eine unvorhergesehene Panne. Den Folgen würde das egal sein: alle würden wir sterben und dabei verglühen. Die Welt war verrückt und gefährlich. Stanley Kubricks Film Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte die Bombe zu lieben aus dem Jahr 1964 ist mir noch immer in Erinnerung: eine Groteske, die sich elliptisch der Wirklichkeit annäherte. Man wusste nicht, war man selbst oder waren die Anderen verrückt.

Es war damals fast unmöglich, sich eine Welt ohne die permanente Androhung ihrer Auslöschung vorzustellen. An die Planung der Zukunft zu denken, erschien fast unmöglich. Der Niederländer Hermann van Veen, Clown, Sänger und Violinist, brachte dieses Gefühl in einer gesungenen Paradoxie 1988 zum Ausdruck:

Die Nachricht warf mich aus dem Gleis
Mir zittern noch vor Schreck die Knie
Soeben las ich schwarz auf weiß
Die Bombe fällt nie
Hat das nicht schlimme Konsequenzen?
Die Zukunft hatte bislang Grenzen
Doch wenn man wieder planen kann
Was fängt man mit der Zukunft an?

Hermann van Veen. Die Bombe fällt nie. (Lyrics)

Dann, schon gegen Ende des Kalten Krieges begegnete ich als Entwicklungshelfer im Grenzgebiet von Afghanistan und Pakistan, dem Krieg, den die Sowjetunion 1979 – 1989 gegen die afghanische Bevölkerung führte. In zwei riesigen Flüchtlingslagern nordöstlich von Pehawar sollten Flüchtlinge in Basartechniken ausgebildet werden. Dort habe ich miterlebt, wie die Opfer des grausamen Krieges, der dem afghanischen Volk durch die zerfallende Sowjetunion aufgezwungen wurde, durch die Hubschrauber der pakistanischen Armee in meinem Wohnquartier abgesetzt wurden. Kinder wurden durch abgeworfene Spielzeugbomben in Stücke zerrissen. Am Morgen musste ich über Bahren steigen, auf denen die Verletzten lagen und auf Versorgung durch das Internationale Rote Kreuz warteten. So begann ich meinen Arbeitstag. Im amerikanischen Klub in Peshawar sass dann abends jener Mann, der für die Lieferung der amerikanischen Stinger Raketen an die Mujaheddin verantwortlich war: der CIA Mann Jack Devine. Es fühlte sich eigenartig an, neben ihm ein Bier zu trinken.

Und dann, nach mehr als einem Jahr wieder zurück in Europa: die Sowjetunion zerfiel und mit ihm wurden die Satellitenstaaten des Warschauer Pakts wieder unabhängig. Wer bis die Rückständigkeit, die Verlogenheit und die Unterdrückung des Sowjetsystems geleugnet hatte, konnte sich nun davon auf Reisen davon persönlich überzeugen. Dass die Demokratie und der Frieden in Europa obsiegen sollte, war aber eine Schimäre. Im selben Zug begann der Zerfall Jugoslawiens mit jenen kriegerischen Verirrungen, die durch den serbischen Nationalismus und ihre grössenwahnsinnigen Führer ausgelöst wurden. Hatten wir an das Nie wieder Krieg in Europa geglaubt, so wurden wir durch die Balkankriege (1991 – 2000) eines Besseren belehrt: Der Massenmord in Srebrenica war das Fanal von Grausamkeit, Zynismus und Ethnozid. Fast erleichtert beobachtete ich die Bombardierung politischer und militärischer Infrastruktur in Jugoslawien durch die Nato. Viele hofften, diese würden dem Krieg in Europa endlich ein Ende bereiten.

Und all die anderen Kriege Kriege, die über das Fernsehen in unser Bewusstsein strömten: Golfkrieg, Tschetschenienkriege, Transnistrienkonflikt, Eritrea – die Aufzählung der Kriege wäre noch lange fortzusetzen. Allein der Blick auf die lange Liste kriegerischer Ereignisse deprimiert.

Vielleicht war es dieses ständige Abarbeiten der Kriegserlebnisse, das mich einen Beruf ergreifen liess, in dem ich mich darauf konzentrieren konnte, die Beschädigungen durch den Krieg kompensieren zu helfen. Im Glauben an Demokratie und Solidarität wollte ich von nun an Zukunft positiv gestalten. Dem Todestrieb der Menschen den Eros entgegenhalten: darum ging es wahrscheinlich. Weit entfernt von der Naivität des Glaubens an die Menschen war dieser Blick: eher dort, wo es um die Notwendigkeit von Wiederaufbau und Friedenssicherung ging. Bemühen um Friedenssicherung als einzige Möglichkeit eben.

Und schon wieder sind wir in einen Krieg geschlittert, diesmal wieder ganz in unserer Nähe und selbst ein Atombombenszenario erscheint als nicht mehr unmöglich. Es ist nichts Neues und Ungewöhnliches an der Destruktivität der Menschen, auch wenn so viele unter uns erschrocken tun. Mit welcher Naivität haben jene denn bislang gelebt?