
Es ist herzzerreissend. Die ersten Flüchtlinge haben Wien erreicht. Ich befinde mich am Wiener Hauptbahnhof, bin gerade auf meinem Rückweg nach Bregenz, warte auf meinen Nachtzug. Es ist 10 Uhr nachts. So sehr bin ich mit meinen Eindrücken beschäftigt, dass ich kaum über sie schreiben kann. Erst jetzt, Tage später, kann ich diesen Blogeintrag verfassen.
Drei Mitarbeiterinnen der Caritas stehen verloren an einem Stand mit einer ukrainischen Fahne, scheinen aber auf den ersten Blick wenig zu tun zu haben. Sie stehen da, als wüssten sie nicht, was zu tun ist. Junge, unerfahrene Leute. Wenig später sind sie dann auch verschwunden, offenbar nach Hause gegangen. Der Informationstand mit der ukrainischen Flagge ist in dieser Nacht unbetreut. Doch noch immer kommen Züge aus dem Osten an, andere fahren Richtung Westen. Das wird mindestens noch zwei Stunden so gehen.
Überall auf dem Bahnhof befinden die Gepäcksinseln der Flüchtigen, die mitunter auch auf dem kalten Steinboden lagern. Frauen, Kinder, Jugendliche, alte Leute. Hastig gepackte Taschen und Bündel, Haustiere in Transportkäfigen. Das Bild eines Ausnahmezustandes, von beginnenden Chaos: dabei beginnt die Flüchtlingswelle erst anzurollen. Wir haben den 5. März 2022. Die Menschen sind gerade aus der Slowakei, aus Polen und aus Ungarn angekommen. Sie warten auf den nächsten Zug, auf Abholung durch Freunde und Bekannte, oder sitzen einfach nur verloren da. Keine/r geht auf sie zu, um Hilfe anzubieten. Ein paar wenige ziehen hektisch durch die Bahnhofshalle, mit unklarem Ziel. Vielleicht haben sie auch erfahren, dass es eine Notschlafstelle der ÖBB mit 50 Betten gibt. Sie haben Glück, denn auch in Krisenzeiten wie diesen, hat die Hilfsinfrastruktur nur zu bestimmten Zeiten geöffnet. Aus Sicherheitsgründen, wie es von der Pressesprecherin der ÖBB heisst. Was das genau heisst, weiss keiner, und keine/r fragt nach. Tage später erfahre ich durch den Artikel des Journalisten Michael Bonvalot, dass die Notschlafstelle immer nur von 23.00 bis 7.00 geöffnet hat. Wer ausserhalb dieser Zeit kommt, dem wird der Zutritt verwehrt. Auch medizinische Versorgung für die traumatisierten Menschen gibt es keine am Bahnhof. Wien ist auf die ukrainischen Flüchtlinge vorbereitet, sagt man auf politischer Ebene. „Aber wie genau?“, frage ich mich als Bürger.
Die Flüchtlinge sind nicht das allein beherrschende Bild auf dem Wiener Hauptbahnhof. Sie mischen sich nicht nur mit den anderen Reisenden, sondern auch mit Jugendlichen, die sich angesichts des sgn. „Freiheitstages“ mit Alkohol versorgt haben. Wenn Freiheit nur mehr mit dem Nichttragen der Maske und der Öffnung der Nachtgastronomie assoziiert wird, dann wird die Freiheit zum Ideal der Idioten. Wien ist zwar angesichts der österreichweiten Aufhebung der Pandemievorsorge noch immer restriktiv, doch die österreichische Öffnung hat sich herumgesprochen. Die Jugendlichen geniessen die Freiheit, während andere die Freiheit nur mehr dazu in Anspruch nehmen konnten, vor den Russischen Truppen zu fliehen. Narrenfreiheit und Vogelfreiheit, der Vergleich macht einen sicher. Flüchtlinge, Reisende, Obachlose, betrunkene Jugendliche. Dazwischen aufgeregte Mitarbeiterinnen der Security, deren Anzahl unübersehbar aufgestockt wurde und die sich nun etwas ratlos und autoritär um die Obdachlosen, Betrunkenen und Schwierigen kümmern. Auch für sie ist es kein Tag wie jeder andere.
Nicht immer ist mir klar, wer zu welcher Gruppe gehört, wer Flüchtling ist und wer nicht. Eine Frau schläft mit dem Kopf auf ihrem Kinderwagen. Ich weiss zunächst nicht, ob sie obdachlos ist und den Kinderwagen nur für den Transport ihrer Habseligkeiten benutzt oder ob sie eine gestrandete, verlorene Flüchtige ist. Doch als ich genauer hinsehe, entdecke ich Aufschriften auf Kleidungsstücken, die sie als Ukrainerin identifizieren. Ihr Kopf muss nahe bei ihrem Kind liegen: Schutz gebend und Zuflucht suchend. Sie sind alleine und wirken fürchterlich verloren.
Eine Gruppe von Frauen und Jugendlichen nimmt am Boden sitzend ihre Mahlzeit aus einem Fast Food Laden ein, der sich in unmittelbarer Nähe befindet. Verloren steht ein privater Helfer mit einem Ukraine-Fähnchen am Revers inmitten in der riesigen Bahnhofshalle. Bevor ich mich zu meinem Zug begebe, erregt eine Gruppe von Betrunkenen Obdachlosen meine Aufmerksamkeit. Eine Russin, zwei Polen und ein unangenehmer und gewaltbereiter Österreicher streiten. Sie sind einander noch nicht lange bekannt und sprechen ununterbrochen. Die Bahnhof – Security wird aktiv, weist sie vom Platz, offenbar weil sie Rotwein aus der Flasche trinken und nicht dem entsprechen, was der Security als normal erscheint. Aber, was ist schon normal, in Umständen wie diesen?
Mein Zug nach Bregenz fährt verspätet ab. Überraschenderweise verfrachtet man mich statt in den gebuchten Schlafwagen in einen Liegewagen, auf recht uncharmante Art und Weise. „Schlafwagen gibts heute keinen“, meint der unbeholfene junge Schaffner. Daran ist er offensichtlich nicht schuld. Das gibt er auch klar zu erkennen, verstockt und trotzig. Ich weiss, es ist nicht üblich in Wien, sich für die Fehler seines Unternehmens zu entschuldigen. Eigenartigerweise regt mich das aber heute nicht auf. Solche Vorfälle weigere ich mich als Problem anzuerkennen, wenn der Krieg mit seinen Menschen an einem Bahnhof strandet.
Diese Melange mit den Freedom-Day-Alk-Kids kann einem schon aufstossen.
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Danke für diesen Bericht aus dem Wiener Hauptbahnhof!
Ich kann mir die Ausnahmesituation gut vorstellen, vermengt mit der ganz normalen Samstagsatmosphäre.
Berührend.
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