
# Weltschmerz: Ein vom deutschen Schriftsteller Jean Paul (1763-1825) erstmals geprägter Begriff, der gegenwärtig eine Renaissance erlebt. Weltschmerz bezeichnet das (individuelle) Leiden an einer unzulänglichen Welt und geht oft mit Sentimentalität und einer negativen Weltsicht einher. Jean Paul hatte ursprünglich aber nicht menschliches Empfinden, sondern die Haltung Gottes beschrieben: "Nur sein [Gottes] Auge sah alle die tausend Qualen der Menschen bei ihren Untergängen - Diesen Weltschmerz kann er, so zu sagen, nur aushalten durch den Anblick der Seligkeit, die nachher vergütet." Im Wörterbuch der Deutschen Sprache der Gebrüder Grimm findet sich allerdings schon der heutige Begriffsumfang. Es definiert Weltschmerz in mehrerlei Richtungen: (1) als Inbegriff des irdischen Leidens (2) als Ausdruck für eine pessimistische, von Ekel erfüllte, aber auch sentimentale Geisteshaltung und Stimmung; (3) als ironischer Begriff für eine bestimmte Geisteshaltung und (4) als Inbegriff einer unfruchtbaren, ja krankhaften "Modestimmung".
Ich muss zugeben, dass ich dem derzeit so zeigefreudig ins Netz gestellten, narzistisch motivierten und larmoyanten vorgetragenen Weltschmerz eigentlich wenig Verständnis entgegenbringen kann. Fürwahr handelt es sich um eine Modestimmung. Zitat eines Postings: Wenn der Weltschmerz kommt – sei offen für das Schöne. Wie ist man doch enttäuscht von Prekariat, von der Pandemie, der Klimakrise vom wiedererwachten Krieg in Europa, von der Existenz der Atombombe! Das künstlich aufgeblasene Ich kann doch nicht so gekränkt werden! Womit hätte man denn das verdient?
Für mich ist dieses selbstbezogene Herumjammern und Sudern tatsächlich Ausdruck einer Weltflucht, die seinesgleichen sucht: tut sie doch so, als wären die Gefährdungen des Lebens eine Zumutung; tut sie doch so, als hätten wir Anrecht darauf, vom Unglück und Schrecken da „draussen“ verschont zu bleiben; tut sie doch so, als wären wir vom Leben, von dem wir aber keine richtige Ahnung haben, zutiefst enttäuscht und gekränkt worden. Wir verhalten uns so, als dürfte uns kein Ungemach zustossen auf unserer biedermeierlichen Insel der Selbstbespiegelung.
Dass die Welt so ist, wie sie ist, und sich recht wenig um unsere Wehwehchen kümmern will, dass muss von den Verwöhnten wohl erst noch begriffen werden. Denn Weltschmerz in der heute so gerne praktizierten Form ist kein Aufbegehren gegen die Verhältnisse, sondern ein kindliches Gezeter über die Ungerechtigkeit der Welt. Es gehört zur öffentlichen Selbstdarstellung, die die eigene Gefährdung pflegt und sie mit Lifestyle zu heilen versucht. Manchmal erscheint sie auch wie ein narzistisches und mit Kalkül betriebenes Spiel mit der Wehmut.
Weltschmerz angesichts eines Krieges zu empfinden, ist dabei durchaus nichts Neues. Der berühmte Arzt Ferdinand Sauerbruch etwa hat in seinen Memoiren über die emotionale Lage seiner Generation vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges folgendes gesagt und damit den Weltschmerz in seiner charakterlosen Ambiguität beschrieben:
Wir sind uns immer darüber einig gewesen, dass der Frühling des Jahres 1914 der schönste Frühling unseres Lebens gewesen ist. Der letzte zauberhaft schöne. Aber schwer auszudrücken ist das, was wir damals empfanden. Es war eine Stimmung von süssem Weltschmerz, der ich mich, obgleich ich weiss Gott nicht sentimental bin, nicht entziehen konnte. Wir lebten in der Schweiz … in einem neutralen Lande, in dem sich Angehörige aller Nationen zusammenfanden und von der drohenden Kriegsgefahr sprachen.
Ferdinand Sauerbruch: Das war mein Leben. 1951
Doch ich bin ungerecht, denn so mancher empfindet seinen Weltschmerz auch als Verpflichtung zum Widerstand. Paula Dorten aus der Generation „Climate Justice“ schrieb 2020 darüber:
Das, was unsere Herzen manchmal so klamm werden lässt, unsere Zuversicht so taub, darf nicht unseren Tatendrang erstarren lassen. Wenn wir diesen Weltschmerz nicht hätten, diese Verzweiflung, dann würden wir vielleicht auch nichts ändern wollen. Vielleicht hätten wir dann gar nicht das Bewusstsein darüber, wie sehr unser Planet gerade am Abfucken ist. Die Wut über die Geschehnisse auf der Erde bringt uns dazu, etwas zu bewirken. Und wenn mein Herz wieder einmal viel dumpfer pocht als sonst, höre ich es ja trotzdem klopfen. BUM. BUM. BUM. Verändere. Die. Welt.
Paula Dorten: Autsch – Weltschmerz. In: Das Biber, 2020
Und eine derartige Argumentation erscheint mir wiederum sehr sympathisch, weil sie realitätsgerecht ist, kämpferisch daherkommt und in konkrete Handlungen münden kann. Denn es ist nicht so, dass wir nicht an der Ungerechtigkeit der Welt leiden dürften. Nur gefälligst etwas Geselllschaftsrelevantes tun sollten wir. Selbstmitleid ist angesichts der Krise unserer Welt wohl mehr eine Abwertung jener, welche ganz konkret ihre Opfer sind und nicht Weltschmerz – Larmoyanz absondern.
Glossarverzeichnis: Einführung ins Glossar # Street Credibility # Microgreens # Plastification # Querdenken # Anspruchsdenken # Betonmichi und SLAPP # Wellenbrecher # Alles gut # Denkpest # Wiederbelesung # Hopepunk # Comfort-Literatur # Philosophische Praxis # non-bathing # Sneakerjagd # Putins Denazifizierung # Weltschmerz
Es wird genossen…that’s the answer.
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wer kann schon über das leid seiner mitmenschen urteilen. dieses als larmoyanz abzutun halte ich für arroagant.
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Ja, vielleicht ist es das: wenn man diese Art des Weltschmerzes angesichts der vielen Toten tatsächlich als Leid und nicht als Selbstmitleid abtun wollte.
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Vermuten kann man alles mögliche.
Manche Menschen werden mit einem Weltschmerz geboren… oder entwickeln ihn recht schnell, weil sie existentielle Fragen stellen, welche sie ihr Leben lang nicht mehr verlassen, auch ohne Hoffnung auf Antwort.
Wir sterben alle. Traurig ist immer der zu frühe Tod durch Gewalt, Krieg oder Krankheit.
Ich denke: Eine Person ohne Mitleid und Selbstmitleid ist mehr Automat als Mensch. Eine Person ohne Weltschmerz ist eine Art Zombie.
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Eben lese ich diesen Post und bin etwas beschämt. Meinem Posting von gestern Abend fehlte vielleicht der Weltschmerz, aber wahrscheinlich nicht das Selbstmitleid. Bloggen und schmerzliche Wendepunkte im Leben… immer ein schwieriges Thema. Wie soll man damit umgehen? Ich weiss es nicht.
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Ich las deinen Eintrag und fand ihn sehr mutig: aus meiner Sicht lag darin weder Weltschmerz noch Selbstmitleid, sondern du hast die Dinge, die dich betreffen, klargestellt. Ich war erschrocken, ja. Aber so ist das in unserem Leben, das uns nichts vor ihm selbst schützt. Ich wünsche dir alles Gute und gute Genesung!
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Danke Dir, ich bin froh, dass Du das sagst! So hatte ich es auch gemeint.
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