
Draussen, auf der Terrasse wachsen die Krokusse, die im Herbst ausgepflanzt wurden: Weiss, Blau, Gelb. Das war so vorgesehen im letzten Jahr und deshalb weniger einer Gnade der Natur als vielmehr gärtnerischem Gestalten anheimgestellt. Die Sonne ist gleissend hell, es wird wärmer. Bald wird es wieder so heiss sein, wie es eigentlich um diese Jahreszeit nicht sein dürfte. Wir sprechen dann wie letztes Jahr vom Ausnahmefrühling. Auf den Spaziergängen („Walking the dog„), die mich regelmässig hinausführen in ein von überdüngten Feldern bedrohtes Naturschutzgebiet, spüre ich den sprichwörtlichen Frieden, den es nicht gibt. Stark und wenig verletzbar fühle ich mich, trotz der Katastrophen rings herum und trotz einer chronischen Erkrankung. Füwahr sind das Situationen eines nur ironisch zu ertragendenden Pensionistenalltags. Nemesis und Hybris sind Seiten einer Medaille: so wollen es wenigstens jene, die an die ausgleichende Gerechtigkeit glauben. Wir aber rütteln gerne an den festverwurzelten Bäumen unseres Lebens.
Man/frau ist in Situationen wie diesen oft versucht zu sagen, dass alles friedlich und gottbeseelt sei, dass man berechtigt sei, das Leben in vollen Zügen zugeniessen und auch den Hauch vom Glück gestreift habe. Im selben Zug ist man verleitet zu behaupten, dass diese Welt verdorben sei und unwürdig der menschlichen Existenz. Es sei kaum lohnend, sich in ihr einzuschreiben. Man merkt, wie Eskapismus am Bewusstsein nagt, der eifrig flüstert, wir sollte uns doch abwenden vom Schlechten dieser Welt und ihren täglichen Katastrophen. „Think Positive!“ oder „Geniess das Leben!“, rufen uns die Wohlfühlapologeten zu. Heil dem Verdrängen! heisst das aber eigentlich. Die Katastrophenbeschwörer bewegt hingegen eine andere Strategie. Sie versuchen uns zu überzeugen, dass wir leiden sollen an der Welt. Suhlt euch in Verletzbarkeit, denn der Weltschmerz ist angeboren !, meinen sie und verehren das Leiden wie eine schicke Droge. Geboren im Schmerz und im Schmerz verschieden – so soll das Leben ihrer Meinung nach sein.
Arroganz hat mir letzthin eine/e Kommentator/in vorgeworfen, weil ich den bloggenden ProtagonistInnen des Weltschmerzes Larmoyanz, ja Unerträglichkeit vorgeworfen habe. Und tatsächlich: mit Hybris sehe ich auf all die wehleidigen Menschen mit Anspruchsdenken, die dem Schrecken dieser Welt nur Wehklagen entgegenzusetzen haben. Sie verderben mit ihrem Gejammer diese Welt – und mir die gute Laune.
Wie also ist die Welt? Sie ist wunderbar und grausam zugleich. Warum also an ihr leiden, wenn sie immer nur als beides, als „Gut“ und „Böse“, kreativ und destruktiv, erfahren werden kann? Eros und Thanatos – in dieser Unversöhnlichkeit wäre also die Welt zu gestalten, rastlos, entschieden und mit der Wut im Leibe, die der Ungerechtigkeit dieser Welt angemessen ist. Nur die Hybris kann dies überwinden, Nemesis ist ein zahnloses altes Weib. Dazwischen blitzt die Schönheit der Welt auf, göttlich und unangreifbar. Lieber am ewigen Widerspruch verzweifeln, als auf die Emphase jener setzen, die sich so gerne mit ihrem Leben im Mittelpunkt des Geschehens sehen wollen. Vergessen werden letzen Endes auch sie, genau wie die arroganten Analysten und zynischen Machthaber.
Glück und Unglück ist auszuhalten und auch zu gestalten (heisst: zu verändern), setze ich in Gedanken dem Lauf der Dinge entgegen. Nichts anderes bleibt als Widerspruch. Fort mit dem Anspruchsdenken, mit dem Selbstmitleid, mit dem lächerlichen Narzismus, mit dem Verdrängen, mit der medialen Ablenkung: das sind die eigentlichen Todsünden, die uns Denken und Fühlen mit Gefühlsduselei verkleistern. Lieber sich hochmütig erheben über die Beschränktheit menschlicher Existenz und ihre Widersprüche bezeichnen, anstatt sich ihr willensarm auszuliefern.
Immerhin, der Ablenkungen sind viele in dieser Welt: gerechtfertigte Ablenkungen, begründete Ablenkungen, erschreckende Ablenkungen, unausweichliche Ablenkungen. Und abgelenkt müssen wir werden von der Wahrheit, die wir nur schwer zu erkennen vermögen. Die medialen Einflüsterer tun das Ihre, um uns zu verwirren. Nicht auszuhalten ist das Newsfeed – Armageddon, das uns überall in seinen Sog zu ziehen trachtet. Es ist wie eine neue Form der Geisteskrankheit, die da auf uns täglich einprasselt. Entkommen kann man ihr nur durch Abkehr. Also, nicht ablenken lassen vom Widerspruch, der in der Welt mächtig waltet!
Rückkehr also für mich zur intellektuellen Routine. Mental kehre ich nach Wochen der Kriegesstarre zum Bodensee zurück und zur Thematik dieses Blogs; will wieder die Regionen um mein neues Zuhause erkunden. Zuletzt war ich am Bodensee und habe mich mit Martin Walsers Roman „Der springende Brunnen“ beschäftigt. So weit war ich dabei vom Kriegsgeschehen in Europa nicht entfernt. Als einen Roman über eine Jugend im Krieg, könnte man das Buch bezeichnen, welches so verschroben ländlich und radikal individualistisch daherkommt. Bis zuletzt geht es ums Ficken und um die bemühte Balance des eigenen Körpers. Über den Tellerrand vermag der Held indes nie hinauszublicken. Das Leben in der Provinz und der Nationalsozialismus gehen vorbei wie ein unangenehmer Windhauch. Als ob niemals Ruhe sein könne!
Endlich habe ich dieses Buch fertig bekommen, die letzten hundert Seiten mit wachsender Langweile und Ungeduld. Also auf nun zu einer neuen Leseaufgabe. Weg vom Schauplatz „Wasserburg“ hin zu einem Städtchen auf der Halbinsel Höri, „Gaienhofen“ genannt.
Es mutet wie Eskapismus an, sich mit dem Frühwerk Hermann Hesses auseinanderzusetzen. Ich tauche trotzdem ein in die Landschaft am Untersee und nehme mir Rosshalde vor. Ein Buch, das zu Kriegsbeginn 1914 veröffentlicht wurde. Es wird einigen gefallen, denke ich, denn es widmet sich dem Leiden an sich selbst und der eigenen Familie. Vom nahenden Grossen Krieg keine Rede. Doch später mehr davon.