
Erratisch kommt der Holzschnitt auf dem Bucheinband des 1914 erschienen Buches „Rosshalde“ von Hermann Hesse daher: er wurde von dem deutschen Grafiker und Maler Emil Richard Weiss gestaltet. Dieser sollte später auch die Gesamtausgabe des Hesseschen Ouevres illustrieren. Es waren Illustrationen, mit denen der Verlag den konservativen Geschmack eines präsumtiven Publikums bedienen wollte.
Hier präsentiert sich die heilige Institution der Ehe: Vater, Mutter, Kind. Ein älterer, bereits verlorener Sohn des Paares, der im Roman auch eine wichtige Rolle spielt, bleibt ausgespart. Die naheliegende Assoziation bestätigt sich bei der Lektüre. Vordergründig deutlich ist die Illustration des Bucheinbandes allerdings schon, denn sie verdoppelt, ja verdreifacht das Thema, welches Hermann Hesse in Rosshalde selbst beschreibt. Sein an sich zweifelnder Held und Künstler Johann Veraguth wird ein derartiges Bild auch in seinem Studio malen:
Es waren drei lebensgrosse Figuren: ein Mann und ein Weib, jeder für sich versunken und dem andern fremd, und zwischen ihnen spielend ein Kind, stillfroh und ohne Ahnung der über ihm lastenden Wolke. Die persönliche Bedeutung war klar, doch glich weder die Männerfigur dem Maler, noch das Weib seiner Frau, nur das Kind war Pèierre, doch um einige Jahre jünger dargestellt.
Hermann Hesse: Risshalde. 1914
Tatsächlich eine Ikone: Rosshalde als Buch, das sich der Laune einer gescheiterten Ehe annimmt, welche nur mehr durch den minderjährigen Sohn Pierre zusammengehalten wird. Und auch dieser sollte sterben müssen und damit die endgültige Trennung des Paares besiegeln. Ein eheliches Kammerspiel in Verkleidung zweier KünstlerInnen wird hier vorgeführt. Wiewohl man lesend die Gründe der Entfremdung des Ehepaars niemals in aller Direktheit in Erfahrung bringt, wird ihr Leiden nur umso drastischer dargestellt. Jahrelange Entfremdung des Paars und Zerrüttung einer Ehe: so wäre die Situation zu beschreiben. Leiden tut vor allem der Mann, der malende Künstler: er trägt die Last der Welt und neidet seinem im Leben stehenden Freund den Wirklichkeitssinn. Die Frau hingegen, eine Pianistin, bleibt unergründlich abweisend, frigide, schwermütig und starrsinnig. Die Ehetragödie auf der Folie Wilhelminischen Konservativismus ist weder interessant noch erhellend, wohl aber minutiös und handwerklich gekonnt beschrieben. Sie ist aber mehr von biographischem als von literarischem Wert. Denn was wohl interessanter ist als das Stück Literatur: es reflektiert Hesses Lebenssituation am Bodensee.
Hesse verarbeitet persönliches Erleben. 1903 hatte er die um 9 Jahre ältere Berner Patriziertochter Mia Bernoulli kennengelernt und ein Jahr später geehelicht. Hesse ist erst am Beginn seiner Karriere, ohne rechtes Einkommen, erst der Roman Peter Camenzind, der 1904 erscheint, macht ihn bekannt, das 1906 erschienene Buch Unterm Rad auch liquide. Mit der älteren Partnerin Mia beendet er abrupt (und mit Bedauern) seine städtische Bohéme, um sich aufs Land zurückzuziehen, nach Gaienhofen, einem unbekannten Nest am Untersee des Bodensees. Das Paar bescheidet sich in ländlichen Verhältnissen, weit entfernt vom literarischen Treiben in Berlin. Es ist ein Akt von Menschen, die zunehmend der Lebensreformbewegung sich verschreiben. Hesse, ein Eigenbrötler auf Irrwegen. Volker Michels schreibt darüber:
Damals hatte das Dorf Gaienhofen nicht einmal 300 Einwohner. Es gab hier am deutschen Seeufer weder elektrisches Licht, Gas, noch eine Wasserleitung, geschweige denn bequeme Verkehrsverbindungen. Die komfortabelste Anreisemöglichkeit war per Dampfschiff von Konstanz aus ans gegenüberliegende Schweizer Ufer nach Steckborn und dann im Fährkahn über den See. Auch Einkaufsmöglichkeiten gab es hier keine, außer einem Bäcker, so dass Hesse künftig zweimal wöchentlich auf die andere Seeseite nach Steckborn rudern musste, um sich mit allem einzudecken, was für den Lebensunterhalt erforderlich war.
Volker Michels: Möglichst weit weg von Berlin. Hermann Hesse am Bodensee (Download pdf)
Dort lebt und arbeitet das Ehepaar Hesse zunächst in einfachen Verhältnissen in einem maroden Haus. Der Ehemann nimmt sich Freiheiten: es bleibt nicht ohne Eskapaden und nicht ohne Versuche, die Enge des ungewohnten Familienlebens und der pietistischen Erziehung zu durchbrechen. Von 1904 bis 1912, also acht Jahre, lebt das Paar zurückgezogen am Bodensee. Dort wird mit dem Kapital der Ehefrau ein Haus am Seeufer errichten, das direkt auf das Ufer des Schweizer Thurgau blickt. Wer hier welches Haus und unter welcher Aufsicht bauen lässt, wird natürlich von den männlichen Biographen Hesses gerne verschwiegen. So werden diese zu seinen Komplizen, in seinem Bemühen sich als grosser Schriftsteller zu stilisieren. Eva Eberwein, die derzeit das (private) Mia und Hermann Hesse Haus in Gaienhofen betreut, hält dagegen:
Als Hesse die Baupläne unterzeichnete, ahnte niemand in Gaienhofen, dass Mia neben der Finanzierung des Vorhabens auch wesentlich die Planung und Bauaufsicht inne hatte: Mit dem Architekten H. Hindermann, der durch Einheirat in die Familie Bernoulli mit Mia verwandt war, entstand so auf der deutschen Seeseite ein Schweizer Landhaus ganz nach ihren Vorstellungen.
Eva Eberwein: KünstlerInnen am Bodensee.
Hesse hadert einstweilen mit seinem Schicksal, sieht sich als Schriftsteller gescheitert, will den Entwurf seines 1910 erschienenen Romans Gertrud vernichten. Er bricht aus – auch zur vielgerühmten Kolonie der Lebensreformbewegung Monte Verità im Tessin – wo er sich einer mehrwöchigen Kur unterwirft. Er sieht sich selbst als Unsteter, der dem Leben mit einer älteren Frau und drei Kindern nicht gerecht werden kann. Zu eng ist ihm die selbstgewählte ländliche Idylle am Bodensee. Die Frau betrügt er, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Er hadert mit seinem selbstgewählten Schicksal und seinem schriftstellerischen Können, kehrt aber immer wieder „nach Hause“ zurück. Von seiner überforderten Frau, die inzwischen die Kinder grosszieht, entfremdet er sich immer mehr. Sie, die einen künstlerischen Beruf hinter sich gelassen hat, um dem Mittellosen aufs Land, ja in die Einöde zu folgen, vereinsamt in Haushalt und Kinderaufzucht immer mehr. Während der Ehemann allmählich schriftstellerische Erfolge feiert und seine künstlerische Form findet, laboriert sie physisch und psychisch an Überforderung. Peinigender Ischias und eine bipolare Störung manifestiert sich. Einweisungen in Krankenhäuser in Basel werden notwendig. 1912 schon ist das Experiment vom einfachen Leben gescheitert: das Paar verlässt Gaienhofen, um nach Bern zu ziehen. 1918 trennen sich die beiden auch räumlich.
Es lohnt, begleitend zu Rosshalde den Roman von Thomas Lang aus dem Jahr 2016 zu lesen. In seinem Roman „Immer nach Hause“ , beschreibt er zwei Stationen im Leben des Paares Hesse: Den „Nicht“-Aufenthalt des Autors in Gaienhofen im Jahre 1907 und die Kriegszeit in Bern im Jahre 1918. Beide Teile liefern auf ironisch – einfühlsame Art Hinweise, was denn alles in diesen Jahren der Selbstisolation in Gaienhofen und später in Bern wohl alles schiefgelaufen sein mochte.
In Gaienhofen jedenfalls beginnt Hesse auch an Rosshalde zu schreiben, das er aber erst 1914 veröffentlichen wird. Sein persönlicher Hintergrund wird dabei schlagend. In einem Brief beruhigt er sich selbst: „Die unglückliche Ehe, von der das Buch handelt, beruht gar nicht auf einer falschen Wahl, sondern tiefer auf dem Problem der Künstlerehe überhaupt, auf der Frage, ob überhaupt ein Künstler (…) zur Ehe fähig sei.“ Doch es ist auch die unglückliche Ehe von Hermann Hesse, von der hier die Rede ist: ein Scheitern, das weniger dem Künstlertum als vielmehr der Unreife und der Unstetigkeit von H. Hesse geschuldet ist. Nur mässig geschickt verbirgt er den biographischen Gehalt seines Romans hinter dem mit sich hadernden Helden Johann Veraguth. Nicht die Mühen einer Beziehung machen es schwer, das Leben so zu leben, wie man es sich wohl gerne vorstellen möchte. Es ist vielmehr der Charakter des Künstlers, der die Ehe scheitern lässt. Die Gnade der Muse fordert ihren Tribut, wenigstens nach Auffassung des Autors. Das ist, aus heutiger Sicht, ein offenkundiges Klischee. Dass Hesse schwierig war, dazu braucht es sein Künstlertum nicht.
So man will, kann man heute das Schiff vom deutschen Konstanz nehmen und an den Unterlauf des Rheins nach Schaffhausen fahren. Dabei wird an an der Halbinsel Höri mit dem Haus der Hesses in Gaienhofen vorbeifahren. Liebevoll erhalten ist es und als Museum des unglücklichen Paares geführt. Schliesst man sich einer Besuchergruppe an, darf man es besuchen und vielleicht darüber räsonnieren, wie die Institution der Ehe am Ausgang des Wilhelminismus untergegangen ist. Davon legt in Rosshalde Hermann Hesse literarisches Zeugnis ab: erratisch wie ein Holzschnitt, in der Form konservativ, ja altmodisch, aber unbeirrt flirtend mit dem vermeintlichen Wesen einer Künstlerexistenz. Wem solche Romane der existentiellen „Unausweichlichkeit“ gefallen, dem sei zu Rosshalde geraten.
Den Blick im See verlieren: Einleitung * Wasserburg * Gaienhofen