
Vieles im Leben älterer Menschen ist eine Zeitreise, man verfolgt unbeirrbar Dinge, die an Epioden der eigenen Vergangenheit erinnern. Oft hat man diese vordergründig vergessen, sie aber schlummern tief in einem drin. Angestrengt sucht man dann nach dem Verlorenen, will es wieder beleben. Als Wiederholungszwang könnte man dieses Phänomen auch bezeichnen, aber es ist weniger Zwang als Verführung. Manchmal weiss man auch, dass es einen Schlüssel zu den versunkenen Dingen gibt, spürt, dass er irgendwo verwendungsbereit daliegt, damit wir uns wieder Zugang verschaffen können. Noch kann man ihn nicht finden, aber im nächsten Moment liegt er plötzlich vor uns. Wir öffnen die Tür.
Ich will heute einen Artikel über die Psychiatrie schreiben, oder genauer gesagt: über meine Beziehung zur Psychiatrie und meine Erlebnisse mit ihr. Den Schlüssel dazu habe ich lange gesucht, nun, über Nacht habe ich ihn gefunden. Es ist der Name für eine längst geschlossenen Buchhandlung, der mir Altvertrautes wieder in Erinnerung ruft. Brigitte Hermann, Seidengasse, Wien.
Doch zunächst zur Suchbewegung. Die Spaziergänge mit meinem Pflegehund führen mich immer wieder in die Psychiatrische Klinik der Stadt Wil. Es ist ein riesiges offenes Gelände mitten in den Feldern ausserhalb der Stadt, eine offene Klinik ohne Mauern oder Zäune, die Grenzen zu ihrem Umfeld offen lassend. Man verirrt sich ja gerne über die Grenzen zwischen „normal“ und „verrückt“. Das passiert auch dem Besucher der Wiler Klinik, der verwirrt aber gleichzeitig bestärkt in seiner Offenheit gegenüber der eigenen „Verrückung“ lebt. Ver-rückt geworden zu sein, hat man, ist man ehrlich zu sich selbst, auch schon erlebt. Zwangshandeln? Neurotischer Ordnungszwang? Depressive Verstimmung? Manische Betriebsamkeit? Vereinsamung? Aggression? Melancholie? narzistisches Selbstvergnügen? Es gibt so viel, was man je nach Standpunkt auch als a-normal und dann doch wieder als „eigentlich“ ganz normal bezeichnen könnte. Eine Kommilitonin hat mir in den 80er Jahren ein Buch geschenkt, das mir bei dieser Gelegenheit wieder einfällt. „Irren ist menschlich“ heisst eines der Standardwerke der Psychiatrie und Psychotherapie, welches ich in den Achtzigerjahren mit grossem Gewinn gelesen habe. Die mich für mich überzeugendste Grundaussage war jene, das wir als Menschen immer wieder mit psychischen Störungen konfrontiert sind, sie an uns selbst oder an anderen wahrnehmen. Es kommt dabei immer darauf an, auf welcher Position der Skala von Störung man sich gerade befindet. Sie ist da, ob nur selten erfahren, milde oder stark. Es kommt eben darauf an, ob die wahrgenommene Störung jenen Grad an Dysfunktionalität aufweist, die das eigenen Leben und/oder das anderer erheblich erschwert oder verunmöglicht. Dann kommt die Psychiatrie ins Spiel.
Ohne psychische Krankheiten und das Leiden an ihnen verharmlosen zu wollen: ich fühlte mich immer schon vom Irresein angezogen. Das Ver-rückt-Sein von der Welt, ermöglicht eben auch, diese ganz anders zu erleben und die vermeintliche Normalität der „Gesunden“ und „Tüchtigen“ in Frage zu stellen. Sind die gesellschaftlichen Routinen denn nicht auch auf besondere Weise der Wirklichkeit entrückt? Regiert denn nicht auch der Wahnsinn unter uns (scheinbar) Normalen? Die Vorstellung von der Welt als Wahnvorstellung und ihrer manischer Betriebsamkeit hat wohl allemal ihre Berechtigung.
An der psychiatrischen Klinik in Wil fasziniert mich ganz besonders, dass es ein Raum ist, welcher von künstlerischer Produktion fast überquillt. Bunte Lindwürmer, die sich halb überhalb und halb unterhalb des Bodens fortbewegen; alte Bettgestelle, die als Sitzbänke umfunktioniert wurden; Aquarien, in denen menschliche Figuren sitzen; übergrosse Frauengesichter, die sich reliefartig aus dem Boden erheben; bemalte Holzfiguren, emaillierte Steinkugeln, Windspiele, Holz-Sonnenblumen; riesige grüne Kristalle in den Auffangbecken von Springbrunnen – Art Brut überall.
Ich begegne einem Mann, der auf einer riesigen roten Sitzbank in Lippenform sitzt. Es ist ein korpulenter, sehr grosser Mann um die vierzig, der auf einem winzigen Klapprad unterwegs ist. Er versucht, den Hund an meiner Leine zu sich heranzulocken, um ihn zu streicheln. Ich warne den Mann, sage, auf den Hund zeigend: „Vorsicht, das ist ein ganz ein Böser! Nein, nicht streicheln!“ Der Mann antwortet in einem Schwyzerdeutsch, das ich nicht gut verstehe, in etwa: „Wieso? Beisst er beim Scheissen?“ Ich antworte: Er beisst, weil er ein ehemaliger Strassenköter ist.“ Der Mann darauf: „Ich bin auch ein Strassenköter.“ Ich fand diese Antwort durchaus bemerkenswert, insbesondere auch deshalb, weil ich mich dem Wesen meines Pflegehundes mittlerweile sehr verbunden fühle.
Das Gespräch ruft eine Reihe von Erinnerungen an irreMenschen in meinem Leben herbei: an die manisch-depressive Malerin, die sich in ihrer Wohnung erhängt hat; an die schizophrene ältere Dame, die sich im Tierhandel eine zweistellige Zahl an Mehrschweinchen gekauft hat, weil sie so weich und kuschelig waren; an Patientinnen in einer Zahnambulanz, die von einer irre kichernden Frau in die Irre geführt wurden; an die depressive Apathie einer Freundin, an das ADHS Leiden eines Bekannten, an das Kriegstrauma einer Verwandten. Das Irresein ist unter uns und wir sind mitten drin.
Und da ist wieder die Buchhandlung Brigitte Hermann in der Seidengasse in Wien. Eine der wenigen Buchhandlungen, die sich in Wien in den Siebziger- und Achtzigerjahren einer Gegenöffentlichkeit verpflichtet fühlte und zu einer legendären Institution wurde. Dort war der Platz für die Anderen, für die Aussenseiter, für die Ausgestossenen, politisch nicht Angepassten. Dort lernte ich die Antipsychiatrie des Franco Basaglia kennen, der in Görz und Triest gegen die Kultur in den Irrenanstalten kämpfte und aus ihnen offene Anstalten machte; dort erfuhr ich mehr über die Kritische Medizin eines Werner Vogt, der gegen den Nazi-Arzt Heinrich Gross kämpfte, der in den 60er und 70er Jahren als Gerichtspsychiater in Österreich tätig sein durfte; in der Buchhandlung Hermann erfuhr ich über die die Art Brut – Ausstellungen am Wiener Steinhof und die Arbeit des österreichischen Pschiaters Leo Navratil. Ich kaufte dort Bücher von Foucolt und Derrida. Einem schriftlichen Bericht der Buchhändlerin über die bewegte Zeit der 68er-Jahre folgend, lese ich:
Ich bin erst viel später wieder politisch aktiv geworden in der Gruppe „Demokratische Psychiatrie“, die sich mit den Ideen von Franco Basaglia auseinandersetzte. Das war eine politische Gruppe, zu der damals, nach dem Ende der Fraktionierungen, Leute aus den verschiedensten Gruppen hinzugestoßen sind, und in dieser Gruppe war ich zehn Jahre lang politisch aktiv. Dort habe ich mehr über Politik gelernt als je zuvor. Denn dieser Irrglaube, dem wir 68 angehangen sind, man müsse von allem
Erinnerungen von Brigitte Salanda, vulgo Herrmann an die 68er Bewegung. (Download pdf)
etwas verstehen, man müsse wissen, welche Befreiungsbewegung in Hintertux die richtige Linie vertritt, der hat uns gehindert, etwas wirklich genau zu studieren. Für mich war es deshalb faszinierend, zu einer Frage zu arbeiten, die mir überschaubar ist und wo ich alle gesellschaftlichen Umfelder kenne. Nämlich die genaue Untersuchung, wie sind die Irrenhäuser, wie wird mit dem Wahnsinn umgegangen? Das war
für mich eine wirkliche Emanzipation.
Dem kann ich mich, auch aus heutiger Warte, nur anschliessen. Immer wieder kehre ich auf meinen Spaziergängen in die Psychiatrie von Wil zurück: entweder mit Hund, oder alleine. Ich besuche den dortigen Bioladen, den Eselhof, die Gärtnerei und trinke anschliessend im PatientInnencafe einen Schluck. Manchmal führe ich schräge Gespräche mit interessanten Menschen. Oft weiss ich nicht, wer verrückt oder normal oder einfach nur interessant ist. Ich bin gerne dort. Einfach, um mich wieder ein wenig zuhause zu fühlen, in meiner Vergangenheit und im eigenen Ver-rücktsein – auch wenn ich Schwyzerdütsch noch immer nicht gut verstehen kann.
Verrücktsein ist kein witz, sondern allermeist schrecklich.
Schräg sein dagegen hat was!
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