# Zeitenwende: Bezeichnet die Wende von einem als wesentlich erachteten Zeitabschnitt zum nächsten, den Beginn einer neuen Zeitrechnung. Bedeutet auch einen signifikanten Umschwung im historischen Geschehen. Beispiele für sgn. Zeitenwenden sind etwa die Geburt Christi, das 15./16. Jahrhundert als Wende zwischen Mittelalter und Renaissance, die Spätantike, die Jahre 1917/18 usw. Je näher aber politische Ereignisse an unsere Gegenwart rücken, umso fragwürdiger und unsicherer wird ihre Beurteilung als Zeitenwende.

Welche Absichten verstecken sich hinter dem Gefasel von der Zeitenwende? Und: sind es nur die marktschreierischen Gewohnheiten der Medien, die wir dafür verantwortlich machen müssen, dass wir angeblich einer Wende in Europa entgegensehen müssen? Oder steckt Ideologie dahinter?

Von einer Zeitenwende zu reden, sei ein grosses Wort, schreibt Claudia Weber auf dem Verfassungsblog und setzt weiter fort: „Eine Zeitenwende konfiguriert das identitäts- und orientierungsstiftende Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu“. Also: alles Neu bzw. in neuen Relationen.

Auf vielen Kanälen lesen wir: Putin hätte die Ukraine völlig überraschend überfallen und den Krieg völlig unerwartet auf den europäischen Kontinent gebracht. Ein neues Selbstverständnis der westlichen Demokratien mache sich breit, ja eine neue Einigkeit und Verteidigungsbereitschaft. Die Ära einer neuen Ordnungs- und Sicherheitspolitik sei gekommen. Zuerst die Pandemie und dann der Putinsche Angriffskrieg – aus allen Wolken sei man gefallen angesichts der Neuen Zeiten, die doch so überraschend über uns hereingebrochen sind. So wird derzeit argumentiert, mal plumper, mal weniger plump. Fahrlässig falsch und verlogen ist diese Argumentation allemal.

Von der Zeitenwende bedeutungsschwanger zu reden, haben sich vor allem jene Politiker angewöhnt, die die bisherige enge Verflechtung ihrer Wirtschaftspolitik mit dem Unrechtsregime in Russland zu kaschieren versuchen. Neue, drastische, euphemistische Rhetorik muss her, die versteckt, dass man mit dem Diktator bislang gute Geschäfte gemacht hat. Auf deutsche Verhältnisse bezogen hält zeitgeschichte online ideologiekritisch Folgendes fest, für viele andere Politiker in Europa mag dass ebenso gelten:

Im Falle der deutschen Bundesregierung stößt die eminent politische Absicht, mit der der russische Angriffskrieg zum unvorhersehbaren historischen Wendepunkt erklärt wird, übel auf. Bundeskanzler Scholz, der vor wenigen Tagen noch Waffenlieferungen an die Ukraine ausschloss und sich aus Rücksichtnahme auf Putin sogar zierte, die Wörter „Sanktionen“ und „Nord Stream 2“ zusammen in den Mund zu nehmen, ist offenkundig daran gelegen, den historischen Einschnitt maximal zu dramatisieren, der zwischen diesen überholten Positionen und seiner jetzigen Politik liegt.

zeitgeschichte online: Russlands Überfall auf die Ukraine – eine Zeitenwende?

Schon 1989 hatte man mit dem Zerfall der Sowjetunion, dem Fall der Berliner Mauer und den demokratischen „Revolutionen“ in Osteuropa bereits von einer Zeitenwende gesprochen, ja sogar von einem ein Ende der Geschichte (Francis Fukuyama). Heute sehen selbsternannte Propheten wie er sogar die Niederlage Russlands im Krieg gegen die Ukraine voraus. Wie viele Zeitenwenden haben wir in unmittelbarer Zukunft noch zu erwarten? Blickt man auf den Büchermarkt und in die politischen Blogs werden es viele sein! So viele bunte Ballone steigen auf in den Himmel, um zuletzt ohne viel Aufmerksamkeit zu zerplatzen.

Lassen wir die Pferde im Stall. Denn erstens sind wir wohl den Ereignissen zu nahe, um eine Zeitenwende konstatieren zu können. Zweitens laborieren wir in Europa noch immer an den Folgen der Nachkriegsordnung des 2. Weltkriegs. Drittens sollte man die Gegenwart niemals protzig überschätzen. Viertens steht die Welt ohnehin nicht mehr lang, wie Nestroys Couplet schon 1833 lehrt:

Da wird einem halt angst und bang,
I sag‘: d‘ Welt steht auf kein Fall mehr lang.

Johann Nestroy: Der böse Geist Lumpazivagabundus, 1833

Und fünftens: Ich wüsste ja auch eine Zeitenwende, ja geochronologische Epoche zu bezeichnen, die es tatsächlich gibt: die des Anthropozäns. Die wird nicht nur unsere politische Landschaft, sondern auch unsere gesellschaftliche Ordnung verändern – von Grunde auf. Wir sind bereits mitten in ihr drin und werden sie wahrscheinlich nicht überleben. Doch die Konsequenzen aus dieser Epochenwende wollen wir offenbar nicht ziehen. Die Politik beherrschen andere Themen.

Glossarverzeichnis:   Einführung ins Glossar # Street Credibility # Microgreens # Plastification # Querdenken # Anspruchsdenken # Betonmichi und SLAPP # Wellenbrecher # Alles gut # Denkpest # Wiederbelesung # Hopepunk # Comfort-Literatur # Philosophische Praxis # non-bathing # Sneakerjagd # Putins Denazifizierung # Weltschmerz # Zeitenwende