Büste von Annette Droste-Hülshoff im Fürstenschlösschen in Meersburg. Public Domain

In Meersburg am Bodensee finde ich DIE Droste!

Es ist die alte Frage: Wie sich klassischer Literatur annähern? Was hat sie mit unserer Gegenwart zu tun? Sind es die von den Konservativen viel beschworenen sgn. „ewigen“ (also: bürgerlichen) Werte, die attraktiv sind? Ist es das ästhetische Vergnügen an Sprachkunst, welches interessiert? Besteht kulturhistorisches Interesse, das uns leitet? Was bringt uns dazu klassische Gedichte und Prosa zu lesen?

Wie soll man sich dann Annette Droste-Hülshoff annähern? Wie eine Gigantin erscheint sie uns, als Aufbegehrende und als Verkannte, als Verschrobene mit losem Mundwerk und „unweiblichen“ Interessen, als mittlerweile so berühmt Gewordene und Säulenheilige deutscher Literatur. Wie durch dichten Nebel erhaschen wir einen flüchtigen Blick auf ihr Werk. Denn da gibt es die Rezeption der LiteraturkritikerInnen; die Behauptungen der Tourismusverantwortlichen; die Angebote der KulturmanagerInnen und KultrvermittlerInnen (Auf den Spuren der Droste in Meersburg!); die Emphase der Feuilletonisten, die immer wieder neue Aspekte im Leben der Dichterin finden; die Begeisterung der Frauenbewegung, die jeden verzweifelten Schritt von ihr als emanzipatorischen Schritt feiert. Auch wir wollen uns annähern an ihr Leben, aber auf die uns eigene, altmodische und sicher auch verschrobene Art.

Es ist wie immer eine Mischung aus unterschiedlichen Motivlagen, die uns näher an das Werk einer Persönlichkeit führen, und man/frau tut gut daran, die Subjektivität des eigenen Blicks nicht mit historischer Wahrheit zu verwechseln. Wir können gut und gerne auch die Biographie Drostes zu Hilfe nehmen: Als Freifrau mit mehreren Geschwistern im territorial zersplitterten Deutschland 1797 geboren, unverehelicht, ihr Leben lang an körperlicher Schwäche (Lungenschwindsucht) und starker Kurzsichtigkeit leidend, gegen die gesellschaftlichen Normen anschreibend, unglücklich verliebt und enttäuscht von den Männern; eine Frau, die schliesslich ihre Bestimmung gefunden hat in Meersburg, einem Ort, in dem sie schliesslich begraben werden sollte. Alles nachzulesen natürlich auf Wikipedia. Wohin aber führt uns der subjektive Blick?

Schulbildung: Ein etwas verquerer Zugang: dunkel kann ich mich erinnern, in der Schule die Judenbuche gelesen zu haben, was mich damals nicht sonderlich beeindruckt hat. Vor allem der moralisch-belehrend erhobene Zeigefinger der Deutschlehrerin hat mich eher zu einem müden Lächeln verführt, als dass mich die Mileustudie um einen Mord in einem Dorf am Lande beeindruckt hätte. Da waren mir die Verwirrungen des Knaben Törless schon lieber; aber den lasen wir ja nicht in der Schule, zu verklemmt waren die Billdungsverantwortlichen damals, als dass sie das zugelassen hätten. Also lieber die Droste, die hatte es ja mittlerweile in den schulischen Bildungskanon geschafft! Heute denke ich, dass es die emotionale Verfasstheit meiner Lehrerin war, die sich selbst nicht auszudrücken vermochte und deshalb die Droste nutzte, um vielleicht das Ungesagte doch zu sagen. Da hat Sarah Kirsch schon recht, wenn sie von der Verbildung des ästhetischen Vergnügens durch die Schule spricht. Sollte ich mir deshalb die Novelle nochmals zu Gemüte führen, um Neues zu entdecken, was dann wohl dem Alter und der bislang verbrachten Lebenszeit geschuldet sein wird? Ich tat las also nochmals und war erstaunt, was ich damals nicht gesehen hatte in meiner jugendlichen Unverbildetheit: das Symbol des Doppelgängers etwa oder die sehr kritische Schilderung der anarchischen Zustände im Dorf B.

Die Naturinteressierte: Dann, zu anderer Gelegenheit, lese ich von Annette Droste-Hülshoffs Begeisterung für die Welt der Natur, in die sie hinauszieht ist, um alles zu betrachten, zu sammeln und zu begreifen, was denn so reichhaltig auf Flur und Feld geboten wird.

„Tscheppe und ich sind große Freunde und haben uns wertvolle Geschenke an Versteinerungen und Schneckenhäusern gemacht; denn er kriecht ebenso wie ich am See und in den Weinbergen umher und ist lange vor mir gekrochen, sodaß die Meersburger an diese neue Art von Vierfüßlern gewöhnt sind, was mir jetzt gut zu statten kömmt; denn es fällt keinem ein, etwas Besonderes darin zu
finden.

Annette Droste-Hülshoff. Briefe.

Da ist also die durch ausgedehnte Exkursionen schmutzig gewordene, naturbegeisterte Annette, die entgegen aller gesellschaftlichen Konventionen sich in ihrer Mergelgrube verkriecht, um dort die Vergangenheit, die Schönheit, den Tod und die Wahrheit zu erfahren:

Tief in’s Gebröckel, in die Mergelgrube
War ich gestiegen, denn der Wind zog scharf;
Dort saß ich seitwärts in der Höhlenstube,
Und horchte träumend auf der Luft Geharf.

Strophe aus dem Gedicht Die Mergelgrube von Annette Droste-Hülshoff

Die genaue Beobachtung der Natur durch die wegen ihrer starken Kurzsichtigkeit stets vornübergebeugten Droste hat ihre Nachwelt auch dazu verleitet, sie dort als Naturforscherin zu feiern, wo sie doch nur hemmungslose Sammlerin war. 1890 schreibt ein Hermann Landois ein Büchlein mit dem Titel „Annette Freiin von Droste-Hülshoff als Naturforscherin“. Gedicht für Gedicht, Prosastück für Prosastuck geht er darin ihrer Kenntnis der Mineralien, der Pflanzen- und Tierwelt, ja auch der Naturerscheinungen und Gestirne nach und vergeht sich dabei in hymnische Lobpreisungen für eine Frau, der er naturkundlich nachstellt. Er schliesst sein aus heutiger Sicht etwas wunderliches Buch mit der Lobpreisung: „Ja, Annette von Droste-Hülshoff ist eine westfälische Naturforscherin von Gottes Gnaden!“ Begeisterung mag wohl auch seltsame Blüten treiben.

Überhöhung und Seelenverwandtschaft: Und natürlich, es gibt da auch die begnadete Dichterin, die mit ihrer dunklen und überraschend direkten Sprache die Sinne vieler RezipientInnen zum Klingen zu bringen vermag. Die schon erwähnte Sarah Kirsch hat nicht nur mit einem wunderbaren Text als Einleitung zu einer Auswahl des Werkes von Droste-Hülshoff geschrieben, sondern ihr auch ein Gedicht mit dem Titel gewidmet: „Der Droste würd ich gerne Wasser reichen“. Ins selbe Horn stösst auch der Schweizer Literaturwissenschafter Peter von Stamm, der da in dem Hörspiel „Springen möcht ich“ aus dem Jahr 2021 ihr Gedicht „Am Turme“ folgendermassen zusammenfasst:

Und sie schreibt dieses Gedicht, das diese Situation auf den Begriff bringt, und zwar sehr präzis auf ein Bild, auf eine Szene bringt und damit eigentlich ein Jahrhundertgedicht für die Frauen schreibt, für Millionen, die so leben mussten.

Peter von Matt in dem Hörspiel: Annette von Droste-Hülshoff. Springen möcht ich. BR, 2021

Deutsche Verinnerlichung: Apropos Hörspiel. Es gibt da eines von Ludwig Harig aus dem Jahr 1976, in dem er Droste fiktive Gespräche mit ihren „Kindern“ führen lässt: mit dem von der Droste angebeteten, viel jüngeren Levin Schücking und zwei Verwalterinnen des Erbes der Dichterin. Dazu gibt es Musik, komponiert von der Dichterin. Es geht dabei um das, was in der Deutschen Literatur über die Droste den „verinnerlicht“ sei. Vielleicht ist dieser Begriff der Verinnerlichung etwas, das uns heute, fast fünfzig Jahre nach der ersten Ausstrahlung des Hörspiels wie ein esoterischer Begriff anmutet. Ersetzen wir das Wort doch einfach mit einem modernen Begriff, dem von Ownership. Wie heisst es so schön in der Beschreibung des Hörspiels:

… es werden vorgeführt: deutsche Augenblicke der Verinnerlichung oder Augenblicke deutscher Verinnerlichung, und zwar die Verinnerlichung einer historischen Stätte, die Verinnerlichung eines Lebens, die Verinnerlichung einer unglücklichen Liebe, die Verinnerlichung einer tödlichen Krankheit, die Verinnerlichung einer Wirkung und das alles in Tabuisierungen …

Ludwig Harig: Annette und ihre Kinder. Hörspiel NDR, 1976.

Ich sehe gerade, dass dieses Posting elends lange werden wird – und ich noch nicht mal zum Ort des Geschehens, zu Meersburg gekommen bin. Der aber soll für die Dichterin von grosser Wichtigkeit werden. Schnell ein abrupter Abbruch, um Ihre Aufmerksamkeit nicht unnötig zu strapazieren: die Fortsetzung folgt. Bleiben sie inzwischen Droste gewogen!

Den Blick im See verlieren: Einleitung * Wasserburg * Gaienhofen * Am Bodensee * Steckborn * Meersburg 1 * Meersburg 2 *