Bilanzen lesen.

Manchmal beschleicht mich die Gewissheit, an den vermeintlichen Eckpfeilern dieses Lebens vorbeigeschrammt zu sein. Es gibt Dinge, die wie selbstverständlich die Routinen der Normalität widerspiegeln, aber nie einen Platz in meiner Existenz bekamen. Ich besass, um ganz profan zu beginnen, weder ein Auto, geschweige denn einen Führerschein, noch ein Fernsehgerät noch eine von diesen kompletten Wohnzimmer- oder Kücheneinrichtungen, die alle Jahre „erneuert“ werden müssen. Mein gesamtes Leben habe ich als Halbnomade gelebt: mit häufig wechselndem Wohnsitz in verschiedenen Ländern, ohne mir dabei etwas „aufzubauen“, wie es so selbstgefällig heisst; ohne Kleinfamilie mit Kindern und in wachsender Distanzierung zu den Selbstverständlichkeiten, die das materielle Universum ausmachen. Das verschuf mir das Privileg, mein Leben in einer gewissen Radikalität und Unversöhnlichkeit zu den Zwängen der Normalität leben zu können. Viel zu besitzen bringt Sorgen, nichts zu besitzen versklavt, aber moderat wenig zu besitzen, verschafft eine gewisse Freiheit. Die Freiheit, wenig verlieren zu können. So hielt ich es bislang.

Es war und ist ein egozentrisches Leben, das mit der widerständigen Überzeugung geführt wird, dass die Welt stets zu kritisieren sei wegen ihrer mangelhaften Verfasstheit; und dass daraus die Verpflichtung erwuchs, sich nicht an sie zu ketten. Zu prekär erschien jedwede Geborgenheit, zu billig die Freuden des Wohlstands, zu bedeutungslos die Ziele des Mainstreams. Versichern liess ich mich nie. Mit mühsam versteckter Arroganz lehnte ich mich beobachtend zurück und wollte allein „meinen“ Weg gehen, ohne wirkliches Zugeständnis an die eigenen und die gesellschaftlichen Schwächen. LebensgefährtInnen waren erlaubt, aber niemals erwünscht in ihrer letzten Konsequenz. Die selbstgewählte Heimatlosigkeit machte erst möglich, diese Welt so einzuordnen, wie ich sie im Grunde empfand: als einen fragilen Zustand, in den man (frei nach Sartre) geworfen wurde und den man in seiner Absurdität einfach lebte, ohne Hoffnung auf Trost. Freiheit bestand in der Möglichkeit zu verneinen. Die Tröstungen durch gesellschaftliches Wohlbefinden, fokussierend in politischen Zugeständnissen wie unvollkommener Demokratie, betäubenden Wohlstand und vermeintlicher Individualität erwiesen sich als Schimäre. Die Drohungen durch Gewalt, Ungerechtigkeit und Betrug waren die eigentliche Realität. Und Gott war tot, immer schon.

Man möchte nun nachdenken wollen, was denn die Leitlinien meiner Existenz gewesen sein mochten, wenn sie so am Leben des Mainstreams so vorbeigingen. Ein wichtiger Bestandteil meiner selbstgewählten Prinzipien war wohl die wütende Beschäftigung mit der komplexen und ernüchternden Verfasstheit dieser Welt: vom Standpunkt der Philosophie, der Geschichte, der Psychologie, der Literatur und dem Film. Fur mich gab es sie noch: die Wissenschaft vom Leben des Menschen. Die ungeheuer schillernden Wissensmaschinen zogen mich an, den sie lichteten den Nebel, den die Mächtigen immer zu erzeugen geneigt sind: egal ob in Demokratie oder Diktatur.

Wenn also alles so durchscheinend werden konnte durch die Instrumente des Denkens und Schreibens, sich explizit explizit und konkret zeigte in seinen Motiven, seinen Haltungen und Verfasstheitheien: warum dann nicht den Weg durch den Menschen hindurch gehen und alles wollen an Verstehen und Perspektive? Als sei mein Leben eine einzigartige Versuchsanordnung gewesen, in dem ich mein eigener Untersuchungsgegenstand gewesen war. Das führt zu Humor, Ironie, sogar Zynismus. Beruhigend war es nie.

War mein Leben ein Erfolg, ein tragischer Irrtum, ein skurriler, aber bemühter Versuch, so frage ich mich. Wer kann das wissen! Die Beantwortung dieser Frage liegt, wie alt ich ich auch werden möchte, noch immer vor mir.