
Nach einem zaghaften und recht folgenlosen Aufschrei der Weltöffentlichkeit nach der völkerrechtswidrigen Annexhion der Krim 2014 und der Bewaffnung prorussischer Milizen in den ostukrainischen Gebieten Luhansk und Donezk schienen die Kämpfe im Osten Europas dem kollektiven Vergessen anheimzufallen. Gas-, Öl- und Mineralimporte bewogen die europäischen Wirtschaftseliten und PolitikerInnen die Aufmerksamkeit um die imperialistische Politik Putins und seiner Elite möglichst klein zu halten. Wirtschaftliche Interessen des Westens standen auf dem Spiel: da zählen politische Moral und Völkerrecht nicht viel.
Hätte man vor zwei, drei Jahren in der Bevölkerung Westeuropas gefragt, ob denn Krieg in Europa geführt würde, man hätte dies in den meisten Fällen verneint: Luhansk und Donezk waren mental sehr weit entfernt, nicht in „Europa“, sondern irgendwo im „Wilden Osten“ gelegen. Der Osten ist ein sonderbarer Kontinent, nie haben wir ihn so richtig in „unserem“ Europa integriert. Dieses Pauschalurteil möge an dieser Stelle erlaubt sein: Das Volk ist meist dumpf und die politischen Eliten sind verlogen. Beispiele dafür gibt es viele. Erst heute bereut man die Buhlerei um einen Finsterling bitter, aus wirtschaftlichen, jedoch nicht aus moralischen Gründen. Aber auch das terrorisierte Volk in Putins Landesmuseum der Grausamkeiten ist dumpf und trägt Verantwortung: darum schreibt man das Land, wie wir später lernen werden, mit kleinem „r“: russland!
Man sollte mehr auf die Literatur hören: hier kommt die Wahrheit zwar in ästhetischem Gewand einher, manchmal kryptisch oder in Symbolen. Man muss sie sich deshalb geduldig erlesen. Auf den ersten Blick spricht sie nur wenige Menschen an: Lesen von Texten erfordert Mühe, Übung und Bildung. Die Kunst des reflektierten Lesens und der subtilen Kommunikation beherrschen nur wenige. Von schwierigen gesellschaftlichen Verhältnissen möchte man nichts hören: Euromaidan, Krim-Okkupation und Krieg in Donezk/Luhansk. Die meisten wischen auf ihren Smartphones und Tablets hin und her, so wie es Jules van der Ley so eindrücklich wie provokant in seinem Artikel Deppen der Surrogate beschrieben hat. Nur Flimmern der Buchstaben sackt in die eigenen Überlegungen und die eigene Haltung hinein, welche man als Erwachsene/r zu den (tod)ernsten Dingen der Welt entwickeln sollte. Der Krieg wird zum Panoptikum der „Warfluencer„, denen wir hinterherwischen. Augenlust bis zum Überdruss!
Ich denke auch: Man hätte mehr auf die Literatur hören sollen in den vergangenen Jahren, auf die Kunstwerke, auf die Gegenkultur in russland: etwa auf die in Österreich lebende, ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk. Sie hat schon nach der Annexion der Krim 2014 in einem sehr ironischen Beitrag in der FAZ gemeint:
Russland, du sagst, du willst uns Dummchen retten, das ist deine Aufgabe. Bitte rette uns nicht! Lass uns untergehen! Unsere Kohlebergwerke sind nicht mehr rentabel, unsere Felder tragen keinen Weizen mehr, wir sind pleite, das letzte Geld nahm der geflohene Präsident mit. Du bekommst von uns nichts außer einer neuen Partisanenarmee.
Tanja Maljartschuk: Russland, mein Russland, wie liebe ich dich. FAZ vom 10.03.2014
Ich muss dir ehrlich sagen, Russland, mein Leben lang habe ich dich gehasst. Ich war eine fundamentalistische Antirussin, wobei ich deine Literatur las und deine Sprache als zweite Muttersprache spreche, Jetzt bin ich es nicht mehr. Ich hasse dich nicht mehr. Ich weiß, dass es mich schwächer und dich stärker macht. Hass ist dein Futter. Schau, wie groß bist du geworden, Russland.
Russland, ich liebe dich.
Heute, mit Blick auf die Massaker, willentlich begangen durch russischen Truppen und Geheimdienstleuten an der Zivilbevölkerung in Butscha und Borodjanka mag dieser Text viel zu zurückhaltend, fast schon verharmlosend erscheinen, zu sehr geprägt von einer Ironie, die nur für Friedenszeiten passend erscheint. Trotzdem: es war eine drängend warnende Stimme, welche den Zugriff russlands auf die Ukraine klar vorausgesehen hat. Wir in Westeuropa haben nicht zugehört.
An dieser Stelle geziemt es sich, auch auf den Podcast der FAZ vom 3. 4. 2022 hinzuweisen, der sich mit den literarischen Stimmen aus und zur Ukraine auseinandergesetzt: Dichter im Krieg. Ein Gespräch mit Katharina Raabe über die Kraft der ukrainischen Literatur. Darin wird rasch klar, was wir alles an Vorsicht und Einsicht versäumt haben, wie wenig Wissen über die Ukraine wir uns bis dato angeeignet haben und mit welcher Naivität wir den Expansionsgelüsten Putins gegenübergestanden sind. Die ukrainischen Autoren haben über die Bedrohung ihres Landes geschrieben, mit wachsender Verzweiflung! Es lohnt, sich in den Spiegel zu sehen.
Eine andere Literatin, die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen hat sich zu Putins verdeckten Absichten mehrmals geäussert, zuletzt in einem Artikel in der Zeit am 14.2.2022. Mehrmals hat sie in den letzten Jahren von einer drohenden Finnlandisierung der Ukraine und anderer europäischer Staaten gesprochen, eine einst von der Sowjetunion angewandte Methode, ein Land zum Neutralismus zu zwingen und dabei die Meinungs- und Handlungsfreiheit ihrer Bewohnerinnen hinter einer Maske von Pseudoneutralität einzuschränken. Finnland im Kalten Krieg weiss davon ein Lied zu singen. Nun, angesichts der latenten Bedrohung durch russland wird es bald der NATO beitreten wollen.
Da die Finnlandisierung vom Standpunkt der Sowjetunion aus eine Erfolgsgeschichte war, liegt es nahe, dass Russland ihre Lehren wiederholen will. Aus russischer Sicht wäre eine Finnlandisierung ganz Europas ideal, nicht nur der Ukraine. Dieses Bestreben manifestiert sich in zahllosen russischen Versuchen, außerhalb seiner Landesgrenzen Einfluss zu nehmen. Die Methoden sind bekannt: Eine Manipulation der Gemüter und der Sprache, der abwechselnde Einsatz von Zuckerbrot und Peitsche, die Androhung von Gewalt.
Wirklich eindrücklich sind die Warnungen Sofi Oksanens vor dem Krieg allerdings in ihrem Roman Hundepark, einen Roman, der unmittelbar vor Kriegsbeginn geschrieben wurde, aber die Verhältnisse in der Ukraine seit dem Jahr 2006 reflektiert. Darin erzählt sie in einer präzisen, von ihren Gegenständen distanzierten und mitleidslosen Sprache die Geschichte einer jungen Frau, die der Beschränktheit ihres Lebens in der Ukraine entringen will und dem gnadenlosen Geschäft der Vermittlung von Leihmüttern nachgeht. Die Handlung spielt sowohl in der Ukraine als auch in Finnland und legt in einem breitangelegten Sittenbild die fragwürdigen Praktiken rund um die Ausbeutung des weiblichen Körpers bloss. Es sind aber nicht nur die Verwerfungen der postsowjetischen Gesellschaft und ein recht fragiles Rechtssystem, welche das materielle und psychische Elend von Menschen verursacht, sondern der Krieg tut noch sein Übriges, um die Sitten zu verrohen und die Hoffnung auf ein besseres Leben zu begraben.
„Nur einen Steinwurf von unserem ehemaligen Zuhause gab es möglicherweise Hunderttausende russische Soldaten. (…) Diese hohen Zahlen und die Mengen der Militärstiefel drangen mit einer Macht in mein Bewusstsein, dass mir die Ohren klangen.“
Sofi Oksanen: Hundepark.
Und noch einen dritten Literaten möchte ich gerne zum Abschluss zitieren, den ukrainischen Autor Yuriy Gurzhy. Er schreibt derzeit an seinem Kriegstagebuch, das im Tagesspiegel publiziert wird:
Man kann es nicht oft genug sagen, laut, klar und deutlich – wir haben es hier mit dem Genozid des ukrainischen Volkes zu tun, den russland (ab jetzt sollte der Name dieses Landes nur noch kleingeschrieben werden) mit den Händen seiner Bürger betreibt. Am Massaker von Butscha ist russland schuld. Am Massaker von Butscha sind russen schuld.
Tagesschau: Yurij Gurzhys Kriegstagebuch 17, 4.4.2022
Die oberflächliche Weise, in der Smartphonenutzer auf die Welt reagieren, ist gewiss auch Ausdruck der Überforderung. Auf Nachrichten von Krieg und Gräuel lässt sich nicht reagieren. Einige reisen in die Ukraine, um ihrerseits auf Menschen zu schießen. Es wird gefeiert, dass ein kanadischer Scharfschütze auf der Seite der Ukraine kämpft. Auch derlei Nachrichten lassen einen hilflos zurück.
Ist es eine angemessene Reaktion, Russland nur noch klein zu schreiben? Dann dürften viele Nationen sich nur noch mit ganz kleinem Buchstaben schreiben. Gerade wir Deutschen haben in der Vergangenheit in ganz Osteuropa gewütet. Unsere Väter und Großväter haben Millionen Menschen ermordet. Dem anderen das Menschsein abzusprechen, beginnt mit symbolischen Gesten und endet in der Vernichtung des „unwerten Lebens.“
Dass der ukrainischen Autor Yuriy Gurzhy, dessen Land angegriffen wird, sich so heftig äußern, ist verständlich, doch Frieden bekommen wir nur durch Abrüstung, auch in der Sprache.
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Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich die Position Yuriy Gurzhys ansprechen sollte bzw. ob ich sie teilen kann. Schliesslich habe ich mich dazu entschlossen, auch um mit ein Zeichen gegen die derzeit missverständliche Personifizikation des Angriffskrieges mit Putin zu setzen. Putin weiss nicht nur einen bedeutenden Teil der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Elite russlands hinter sich, sondern auch grosse Teile der Bevölkerung. Diesen russischen Nationalismus und den antiukrainischen und antidemokratischen Reflex grosser Bevölkerungsteile durfte ich (auch beruflich) immer wieder miterleben. Russland macht sich somit über weite Strecken kleiner als es eigentlich ist. Es wird zu russland, leider.
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Der Krieg in der Ukraine wühlt mich auf. Die Entwicklung in Russland macht mich traurig, wütend … ratlos. Von Putin habe ich nie etwas Gutes erwartet, aber es schmerzt unendlich. Ich habe sehr gerne in Russland gelebt und gearbeitet. Es ist „meine“ Sprache … und was machen Putin und Co daraus????- Danke für den interessanten Beitrag. Ich beschäftige mich auch gerade mit dem „Gegen-Russland“ der Literatur.
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