Ehemaliger Friedhof der Psychiatrischen Klinik Wil

Ein Ort ist das, an dem ich oft mehrmals die Woche vorüberkomme, an den ich oft ohne neugierig zu sein, einfach vorbeigegangen bin. So, als hätte ich ihn (unbewusst) übersehen müssen, in seiner erschreckenden und auch geheimnisvollen Bedeutung.

In einer etwas entlegenen Ecke des Psychiatrischen Anstalt in Wil befindet sich ein Gelände, das mit drei grossen Bäumen bewachsen, aber sonst leer ist. Eine mitgenommene, mit Efeu überwachsene Mauer begrenzt das Grundstück, ein grosses, schmiedeeisernes Tor lässt sich öffnen und das Innere betreten. Drinnen an der Breitseite steht mittig ein sehr grosses altes Holzkreuz vor einem riesigen Baum, sonst bewegt man sich etwas verloren inmitten eines grossen, grasbewachsenen Rechtecks. Ich es zwar schon geahnt: das muss wohl ein Friedhof sein, nur: Wo sind dann die Gräber? Weit und breit kein Hinweis auf sie: nur düstere, weihevolle Stimmung allerorten. Trotzdem bin ich froh, das Gelände endlich betreten zu haben.

Wo sind die Gräber? Die Frage ist rasch beantwortet, denn eine Tafel am Eingang, die ich übersehen habe, gibt Auskunft: der Friedhof wurde vor 30 Jahren leergeräumt. Wieder erfahren wir, wie schon an anderer Stelle, dass die letzte Ruhestätte von Menschen einer wie immer (profitorientierten) Raumplanung unterworfen wurde, die sich mit einem Wasserschutzgesetz getarnt hat. Nicht einmal die letzte Ruhestätte der Toten darf unsere effiziente, profitorientierte Zeit überdauern: besonders dann, wenn die Verstorbenen keine Lobby haben, wie diese armen Seelen: die Verrückten, Unbotmässigen, Heimatlosen, von allen Verlassenen.

(Ehemaliger Friedhof)
Im Jahre 1890 für 800 Gräber angelegt, fanden auf diesem Friedhof die verstorbenen Patienten der Psychiatrischen Klinik Wil (damals „Asyl Wil“) ihre letzte Ruhestätte. Die meisten Verstorbenen waren mittellos oder kamen von auswärts und hatten keine Verwandten mehr. Es waren sehr bescheidene Beerdigungen. Anstelle von Blumen legte man den Verstorbenen Thuja-Zweiglein ins Grab. Thuja, auch orientalischer Lebensbaum genannt, gilt als Baum an der Schwelle zwischen Leben und Tod.
Die letzte Beerdigung fand hier am 24. April 1973 statt. Vollständig geräumt wurde dieser Friedhof 1993. Im Zuge der Bebauung des angrenzenden Wohngebiets verlangte eine Verordnung des Gewässerschutzes die Aufhebung der Gräber. Bis heute ist dieser Ort subjektiv-emotional wie auch objektiv betrachtet sehr einzigartig. Er ist mehr als eine historische Grünanlage mit dem Hauch des Vergänglichen. Er ist Kulturgut und Zeitdokumentation zugleich. Der Erhalt dieses vor vielen Generationen sehr sorgfältig gestalteten Geländes ist Verpflichtung und Herausforderung zugleich.

Inschrift auf dem Gelände der Psychiatrischen Anstalt in Wil.

Was aber hat man mit den exhumierten Körpern gemacht? Warum wurden die Toten nicht wenigstens geehrt, indem ihre Namen auf einer Tafel festgehalten wurden? Und letztendlich: welche Schicksale verbergen sich hinter den Leben der armen Verstorbenen, den verstorbenen Armen? An die Verbrechen der Psychiatrie in der Vergangenheit, die auch hier in der Schweiz begangen wurden, wage ich kaum zu denken. Man müsste der Vergessenen eingedenk werden, indem man in der Geschichte dieses Ortes zu „graben“ beginnt.

Ich muss mir, halte ich fest, für „mein“ künftiges Ruheplätzchen wohl etwas Nachhaltigeres einfallen lassen! Gestört möchte ich jedenfalls nicht werden, von irgendwelchen Sanitätsgesetzen.