Screenshot aus Luis Bunuels Film: Un chien andalou, 1929.

Überholt scheint das Klischee des hinter dem Schlüsselloch hockenden Einzelgängers, der sich erhofft mit einem flüchtigen Blick auf das Objekt seiner Begierde, seine visuelle Lust zu befriedigen. (…) Mit der Erfindung des kinematographischen Apparates wurde dem Einzelgänger eine neue Form der visuellen Lustbefriedigung eröffnet: der Film.

Maria Weickard: Das Fenster in eine andere Welt. 2014.

Natürlich, das wussten wir ohnehin und immer schon: das Kino und die Installation seiner Projektionsfläche in unserer Wohnung (früher: „Patschenkino“, heute: Streamingdienst) war immer schon ein Platz der Augenlust, der perversen Selbstbefriedigung unerfüllbarer Bedürfnisse, des Voyeurismus. Was in der Realität nicht gelingt, muss im virtuellen Raum Erfüllung finden. Doch es ist eine schale, leere, nicht befriedigbare Lust, die wir hier erfahren. Aber es sind nicht nur die perversen und „abnormen“ Spanner, die sich hier befriedigen, sondern Menschen wie ich und du.

Die Gegenstände der Begierde müssen ja nicht immer Formate wie die vielgeschmähten aber heimlich mit Begierde konsumierten Reality Shows sein: ihren Genuss würde man ohnehin mit Verve bestreiten. Es darf auch anspruchsvolleres sein, denn Voyeurismus betrifft ja auch den intellektuell verfeinerten Geist, die stolz sich brüstenden Bildungsbürger unter uns.

Dies sei vorangestellt an die Beurteilung einer Fernsehserie, die seit einigen Jahren die Herzen und Seelen ihrers Publikums erfreut. „In Therapie“ läuft seit 2021 auf arte: insgesamt 50 Millionen Abrufe in der Mediathek und im Schnitt 1,8 Millionen ZuseherInnen pro Folge am Fernsehabend sprechen für den unbestreibaren Erfolg der Serie – so schreibt die Süddeutsche Zeitung. Doch damit nicht genug: schon die ursprüngliche Serie aus Israel, BeTipul aus den Jahren (2005 – 2008) feierte Erfolge, ebenso wie das US-amerikanischen Remake In Treatment (2007-2010). Diese Erfolge des Stoffes erscheinen auf den ersten Blick paradox, auf den zweiten jedoch gut verständlich.

Zunächst: in Zeiten karg bemessener Aufmerksamkeit und fluktuierenden Momenten der Augenlust, kann doch kein Platz für das präzise Sehen, genaue Hören, für tiefes Verstehen mehr geben: es sei denn in Momenten höchster Selbstvergessenheit. Wen interessiert es, andern Menschen intensiv und nicht wertend zuzuhören, ihre Not und ihren Kampf um sich und ihr Vedrängen schweigend anzuhören?

Warum dann also der enorme Erfolg dieser Serie, welche doch nichts abderes tut, als uns an den seelischen Nöten aller Beteiligten (der Klienten wie auch des Psychoanalytikers) teilhaben zu lassen? Doch damit nicht genug: die französische Serie knüpft dabei auch an zwei traumatisierende Ereignisse der jüngsten französischen, ja europäischen Geschichte an: Terrorismus und Pandemie, Ereignisse, die uns in ungeheurem Ausmass bedrohen und erregen.

Ich erinnere mich plötzlich an den ungeheuren Erfolg von Karl Ove Knausgards Lebensbeichte „Min Kamp„. Über tausende Seiten beschreibt er minutiös die Banalitäten und Erniedrigungen seines Lebens und viele LeserInnen verschlangen seine Bekenntnisse mit zunehmendem Suchtverhalten. Eine Lebensbeichte wird da vor uns ausgebreitet, die in der Literatur seinesgleichen sucht und gleichzeitig wird ein einzigartiger Hype um die Intimität eines Schriftstellers damit ausgelöst. So manche LiteraturkritikerInnen sind sich einig, dass das dabei erreichte „literarische Niveau“ eher mittelmässig wäre, die Bücher langweilig und öde seien.

Was machte es also aus, dass man so gerne in der Intimität von Anderen herumkramen möchte, an den Zweifeln der Andern gerne teilhaben will, ohne sich dabei selbst zu entblössen? Ist es der oben angesprochene Voyeurismus, der hier zum Ausdruck kommt, oder doch auch ein wenig teilnehmendes Interesse an den Anderen, die wir sonst immer nur als Verlierer oder Konkurrenten betrachten? Ist es die Sehnsucht, mit den eigenen Problemen genauso anerkannt und wertgeschätzt zu werden, wie es uns gerade vorgeführt wurde?